Die ganz Pessimistischen brauchen ja keinen Dresscode.
Plastikpelerine also schon vor Beginn, obwohl die Sonne durch die
Propyläen blendet und auch später nur ein herbstlicher Wind die
Sommernacht stört. Andere machen sich dafür von innen nass. Mit
Caipi aus Plastikgläsern vom Bauchladenmann oder mit Schampus aus
dem Versorgungszelt. Was so weit geht, dass (nicht nur) der
Gesprächspegel steigt, etwa in Block A3, Reihe 2, bei einer schwer
beklunkerten Dame. Überhaupt scheint das ein Unterschied zwischen
den 88- und den 319-Euro-Plätzen: Geratscht wird vorn, ergriffen
genossen hinten. Und manch Smartphone-Knipser, so darf vermutet
werden, hat Anna Netrebko und Jonas Kaufmann ohnehin nur auf seinem
Mini-Bildschirm verfolgt.
Rund 12000 Fans auf dem fast
ausverkauften Königsplatz, über den am Seil die ZDF-Kameradrohne
saust, vorn, auf der in wechselndes Bonbonlicht getauchten Bühne,
die PR-Schwergewichte der Opernszene – ein Event nennt man wohl so
was, obwohl sich das „Gipfeltreffen der Stars“ über weite Strecken
kaum danach anhört. Nicht weil Anna, Jonas, Thomas (Hampson) & Co.
dürftig bei Stimme und Laune gewesen wären, ganz im Gegenteil. Aber
statt Humtata gibt’s auch ungewöhnlich ambitionierte Kost. Kaufmann
bekräftigt wieder, nach seinem Rollendebüt in Rom vor einigen
Monaten, wie ihm Verdis Radames liegt, schließt die Arie mit
falsettiertem Spitzenton ab. Die Netrebko wagt sich erfolgreich auf
neue Aida-Gefilde mit der so heiklen Nil-Szene. Und Hampson riskiert
das krasse Gegenteil von Gefälligem, mit dem rabenschwarzen Gebet
des Jago aus Verdis „Otello“.
Letzterem, für den schwer
kranken Dmitri Hvorostovsky eingesprungen, liegt solch Spektakel
offenbar am besten. Mit durchgedrücktem Conférencier-Rücken,
minimalen Gesten und umso größerer Ausstrahlung beherrscht Hampson
Bühne und Platz, bringt – auch als Gounods Valentin – die
ausgefeilteste Gestaltungskultur. Der Tenorkollege übernimmt dafür
in seiner Heimatstadt die Rolle des Primus inter pares: Kaufmann
begrüßt die Masse, erinnert an Hvorostovsky und darf das offizielle
Programm beenden mit dem Selbstläufer-Reißer: „Nessun dorma“ ist
immer Garant für Gänsehaut und Ovationen, erst recht, wenn die
Nummer so prachtvoll und mit lang ausgekostetem „Vincääääääro!“
zwischen die Griechentempel gestellt wird. Ganz Gentleman fängt der
Münchner auch am Ende des „Bohème“-Duetts den abgerissenen
Spitzenton der Kollegin mit einem Kuss auf: Dass nicht alles
hundertprozentig gelingt, dass sich etwa die Netrebko als Aida mal
kurz in der Intonation verirrt, dass auch Mezzosopranistin Elena
Zhidkova ihre Eboli-Arie stellenweise versteifen lässt – geschenkt.
Auf dem Plakat ist der Name kleiner geschrieben. Doch Ildar
Abdrazakov, Bassist aus Russland, singt locker auf Augenhöhe. Vor
allem ist seine Verleumdungsarie aus Rossinis „Barbier von Sevilla“
der Stimmungsknotenlöser: späte Bravi an einem Abend, dessen Nummern
vorher arg geschwind abgespult werden (Wetterangst?). Erhebliche
Unterschiede gibt es übrigens beim Höreindruck. Hinten ist das
Klangbild seltsam körper- und zahnlos, dabei gern vom Wind
verschoben, vorn wirken die Stimmen wesentlich besser eingebettet
ins Orchester. Wobei man manches lieber nicht so genau gehört hätte:
Die Janáček Philharmonie Ostrava unter dem lebhaften Claudio
Vandelli bietet im Blech Anfechtbares und im Streicherapparat
Verwaschenes, fängt sich aber im Laufe des Abends.
Alle
Schranken fallen (endlich), als der halbstündige Zugabenblock
erreicht ist. Abdrazakov liefert das mutmaßlich tiefste „Granada“
der Aufführungshistorie, die Netrebko singt sich mit „Heia“ und
Bizarrdeutsch in die Berge der „Csárdasfürstin“, Hampson gibt in
Cole Porters „Begin the Beguine“ den lässigen Crooner, Kaufmann in
„Dein ist mein ganzes Herz“ den unwiderstehlichen Weltumarmer. Zu
den jeweiligen Instrumentalzwischenspielen schwoofen die Kollegen
herein. Ein gemeinsames „Tonight“ aus der „West Side Story“ reißt
die 12000 von den Plastiksitzen. „When you dream, dream of us.“
Nichts leichter als das.