DrehPunktKultur, 02/04/23
VON REINHARD KRIECHBAUM
 
Wagner: Tannhäuser, Salzburger Osterfestspiele , ab 1. April 2023
Ein „lieto fine“ der makabren Art
 
Punktgenau haben sie zur Ouvertüre ein projiziertes Auge angepeilt – dreißig barbusige Schützinnen mit Pfeil und Bogen. Kaum ein Schuss ging fehl. So sehr Romeo Castellucci die Augen beschäftigt: Es sind die Ohren, die die wesentlichen Dinge übermitteln von diesem Tannhäuser. Andris Nelsons bereitet mit dem Gewandhausorchester Leipzig den Boden für einen gar wundersam modernen Wagner-Gesang.

Regieeinfälle sonder Zahl, des Beschreibens dürfte gar kein Ende sein. Aber man muss nach der Premiere am Samstag (1.4.) unbedingt von der Musik zuerst erzählen, von Andris Nelsons' unendlich langsamen Tempi, von der dem Orchester auferlegten dynamischen Kontrolliertheit, ja Zurückhaltung. Da ist ein Singen jenseits aller Opulenz möglich, jenseits aller Angestrengtheit.

Nicht von ungefähr hat man in Christian Gerhaher einen Wolfram, der unmittelbar vom Liedgesang her kommt. Sein erzählerischer Zugang ist symptomatisch für ein handverlesenes Ensemble, das uns weit herausholt aus dem wabernden deutschen „Eichwald“, wie er im Text einmal angesprochen wird.

Laszives im Venusberg? Wir müssen doch, weil's (manchmal zumindest) so schön Hand in Hand geht, das Szenische gleich mit ansprechen. Rund um die Venus sind ja nicht nur barbusige Schützinnen unterwegs. Es wältzt sich auch eine Gruppe von eigenartig geschlechtslosen Wesen auf dem Boden. Wenn sie ihre Gliedmaßen emporstrecken, denkt man an Hühnerbirgeln. Des Tannhäusers „Genug“ scheint mehr als einleuchtend. Da hat sich einer emotional, und vielleicht auch im Wortsinn, überessen.

Die Venus – Emma Bell als Einspringerin für Elīna Garanča – steht mit ihrem verführerisch schmeichelnden, samtenen Timbre auf hoffnungslos verlorenem Posten angesichts Heinrichs Fugalkraft. Der Mann will nichts mehr wissen vom Verführungs-Zinnober im Venusberg, hat sich durch einen schmalen Schlitz in Form einer schlanken Frauen-Silhouette gezwängt und will nur noch hinaus aus dem schlecht sortierten Geflügelladen.

Die Frauen-Silhouette wird auch als schwarze Pappkameradin dastehen, während Elisabeth die Halle besingt. Marlis Petersen ist diese junge Dame, die ihre Stimme so engelsgleich unschuldig verströmen lässt, als ob es da nicht ein Orchester zu übertönen gälte (aber dieses hält Andris Nelsons ja sorgsam zurück). Elisabeth singt von ihrer Zuneigung zu Tannhäuser, aber der stakst auch da wieder über die Wesen aus dem Venusberg. Sie sind auch hier gegenwärtig, zuerst als Ahnung hinter Vorhängen, dann ganz real, als eine nicht weg zu wischende Erinnerung und ein Memento mori zugleich. Mag sein, dass in Tannhäuser die Angst wächst, auch mit Elisabeth in einer Art Gefühls-Gefängnis zu landen. Er ist Venus-geschädigt auf Lebenszeit.

Jonas Kaufmann ist dieser Tannhäuser. Natürlich kein Wagner-Tenor im klassischen Sinne, der sich mit Saft und Kraft durch die Partie bewegt, sondern einer, der gut hauszuhalten versteht mit seinem Material, der die Stimme dafür in den entscheidenden Momenten umso umverkrampfter leuchten lässt. Das funktioniert hier so gut, weil eben auch aus dem Orchestergraben kein herkömmlicher Wagner-Sound kommt, sondern luzide geschichtete Klänge.

Den Sängerinnen und Sängern wird aus dem Graben konstruktiv und doch sehr sinnlich zugearbeitet. Die Rom-Erzählung kann Jonas Kaufmann mithin beispielhaft „erzählerisch“ anlegen, viel näher am Liedgesang als an der Oper. Gerade in diesem dritten Akt, in dem Christian Gerhaher, dieser Spezialist fürs Nacht-Schattige, mit Wolframs Lied an den Abendstern eine so charakteristische Duftspur gesetzt hat, bestechen dann die Dialoge der beiden Männer eben durch präzise Diktion. Aus dem Ensemble der Minnesänger hebt sich Sebastian Kohlhepp (Walther von der Vogelweide) heraus, bemerkenswert ausgeglichen und durchsichtig gearbeitet sind die Ensembles (mit Edwin Crossley-Mercer, Dean Power und Alexander Köpeczi). Einen Landgrafen mit so einprägsamer stimmlicher Präsenz und Geradlinigkeit wie Georg Zeppenfeld gibt’s gegenwärtig sonst nicht.

Der Tschechische Philharmonische Chor Brünn und der Bachchor Salzburg können nicht minder Qualität in der Artikulation ausleben, denn die Chöre werden von Andris Nelsons fast immer im unteren dynamischen Level gehalten – auch da mithin gediegene Gestaltung anstelle plakativer Wirkung. Das hat nicht allen gefallen (es gab am Schluss einige Missfallenslaute für Nelsons), aber schließlich hat der Dirigent am Premierenabend doch den üppigsten Beifall einstreifen dürfen.

Was erzählt und Romeo Castellucci szenisch – und wie erzählt er es? Er hält nicht viel vom Dualismus Venus/Elisabeth, lässt uns dafür eintauchen in die Psyche des Titelhelden, ein eher verqueres, jedenfalls zutiefst verunsichertes Seelen-Wesen. Wir sollen wohl einen erleben, der – mit den Worten des Regisseurs – „immer am falschen Platz“ ist. Oder anders formuliert: Er ist ein Mensch mit sehr unklaren Erwartungen ans Leben und entsprechend nebulosen Rezepturen zu dessen Bewältigung.

Viele Ideen geistern in postmoderner Verbrämung herum. Nicht nur quasi durchs Frauensilhouetten-Schlüsselloch sehen wir von unbekleideter Wollust bis zum Skelett alle Spielarten der Existenz und ihrer Auslöschung.

Die Tänzerinnen und Tänzer vom SEAD/Bodhi Project sind in den ersten beiden Akten allgegenwärtig (Choreographie Cindy von Acker), als nicht näher definierte Urwesen, wie als geschäftige Bogenschützinnen. Die Rittergesellschaft greift aber eben so gerne zum Bogen. Die Jagd aufs Ur-Wesen der Liebe ist keine Sache für Zimperliche. Die „Halle“ ist reine Tuch-Dekoration, eine mehr als fadenscheinige Sache. Manches pseudo-symbolistische Detail scheint dann doch mehr der Bühnenfüllung als der stringenten Überlegung geschuldet – immerhin ist überraschend viel los in diesem Tannhäuser.

Den dritten Akt lässt Castellucci fast komplett in Dunkelheit versinken. Hospital der Geister oder doch mehr Grey's Anatomy? Jedenfalls werden Tote in unterschiedlichen Frische- oder Verwesungszuständen angeliefert und wieder beiseite geräumt, während Schriftzüge uns das Vergehen unendlich langer Zeiträume suggerieren. Die Suche nach Lebenssinn und (womöglich gar echter) Liebe ist wohl eine never ending story. Aber selbst ein Tannhäuser endet, und das tut er einprägsam: Nur mehr Aschehäufchen sind übrig von Heinrich und Elisabeth, auf den schwarzen Aufbahrungstischen stehen jetzt nicht ihre Namen, sondern die Vornamen der Hauptdarsteller. Jonas und Marlis also nehmen je ein Häufchen Asche, in ihren Händen vermengen sie die Asche. Da wird, sehr trostreich, doch etwas ganz Eins. Ein „lieto fine“ der makabren, aber effektsicheren Art.








 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
  www.jkaufmann.info back top