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Volksblatt, 27.1.2022 |
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Peter Grimes, Wiener Staatsoper, ab 26.1.2022
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Jonas Kaufmann als neuer „Peter Grimes“ in Wien gefeiert |
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Kann eine Stimme zu groß für eine Rolle sein? Vielleicht. Und dabei soll
hier nicht von Superstar Jonas Kaufmann die Rede sein, sondern von
Shootingstar Lise Davidsen, die am Mittwochabend ihr Rollendebüt als
Lehrerin Ellen in der Wiederaufnahme von Benjamin Brittens „Peter Grimes“ an
der Staatsoper feierte.
Die 34-jährige Sopranistin überstrahlte die
teils hervorragenden Mitspieler – zu denen ebenfalls mit seinem Rollendebüt
besagter Jonas Kaufmann gehörte.
Die Norwegerin stellte in Christine
Mielitz‚ aus 1996 stammender Inszenierung einmal mehr unter Beweis, dass sie
zu den herausragenden Stimmen der jungen Generation gehört. Eine Stimme, die
im schweren Fach zu Hause ist und damit beinahe etwas zu viel Raum
beansprucht als verwitwete, etwas betuliche Lehrerin Ellen Orford, die am in
Brutalität leidenden Peter Grimes verzweifelt.
Zumal Jonas Kaufmann
als Fischer, der am Außenseiterstatus in seinem Dorf scheitert, einen
gebrochenen Peter Grimes gibt. Die Gewalt gegenüber seinen Lehrlingen
entspringt nicht einem übersteigerten Testosteronspiegel, sondern der
Verzweiflung, dem Scheitern an sich selbst. Sein Charakter ist nicht
Sympathieträger, sondern Randfigur, die unter die Räder gerät. Schönklang
ist dementsprechend nicht Kaufmanns Ziel, sondern die brüchige Existenz, die
sich auch in der Stimmführung niederschlägt.
Noch dazu
Bassbaritonhüne Bryn Terfel als Grimes‘ einziger Freund Balstrode, und
fertig ist das Besetzungstrio für eine Wiederaufnahme, nach dem sich viele
Häuser bei einer Premiere alle Finger abschlecken würden. Selbiges gilt auch
für Simone Young als Herrin des Grabens, die wie schon bei der
Wiederaufnahme 2005 das Orchester durch die gewaltigen Stimmungsbilder
Brittens zu führen weiß. Die gebürtige Australierin meißelt mit starkem
Gestus die verschiedenen Charakterzüge des Meeres heraus und lässt nie die
Frage offen, wer bei diesem Dampfer das Kommando auf der Brücke hat.
Dabei segelt Christine Mielitz‚ Inszenierung aus 1996 – die erste der 1945
uraufgeführten Erfolgsoper von Britten an der Staatsoper – auch 2022 wie
meist bei Arbeiten der Regisseurin im ruhigen Fahrwasser: Solide,
ästhetisch, unaufgeregt, unaufregend. Meeresassoziationen durchfließen weite
Teile der Inszenierung, die Bühne hebt sich wie im Tidenhub und der
Bühnenhintergrund evoziert immer wieder Farbspiele des Horizonts. Einzig
eine aus Neonlicht gebaute Autobahn als Weg ins Verderben fällt aus dieser
Stilistik und treibt die Gesamtanmutung in Richtung einer Kraftwerk-Show aus
den 90ern.
Frappant bleibt dabei, wie radikal man bei einer
Inszenierung die im Stück evident angelegte Homosexualität Peter Grimes‘
eliminieren kann. Während etwa in Christof Loys erst im Oktober vom Theater
an der Wien wiederaufgenommenen Regie das homosexuelle Begehren als der
verdrängte Antrieb für Grimes’ Außenseitertum herausgearbeitet wird,
verjüngt Mielitz die Gehilfen des Fischers auf kleinstmögliches Ausmaß, was
das Alter betrifft. Der Staatsopern-„Grimes“ wird da mehr „Oliver Twist“ als
semikryptische Anklage eines homosexuellen Komponisten gegen die Ignoranz
der Gesellschaft. Nun gut: Eine Saison, ein Stück, zwei Theater, zwei
diametrale Botschaften.
Zurück zur Ausgangsfrage: Kann eine Stimme zu
groß für eine Rolle sein? In diesem Falle fällt die Antwort eindeutig aus:
Wurscht – wenn man eine Stimme wie die von Lise Davidsen hören kann.
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