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Klassik begeistert, 22. September 2022 |
Willi Patzelt |
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Britten: Peter Grimes, Bayerische Staatsoper, ab 21.9.2022
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Peter Grimes in München: In dubio pro Kaufmann |
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Es gibt Opern, in die geht man wohl weniger wegen der Handlung, sondern
vielmehr trotz der Handlung. Mit Verdis „Troubadour“ und Mozarts
„Zauberflöte“ seien nur zwei extremere Beispiele genannt. Und dann gibt es
Opern, die von ihrer Handlungsanlage nur so vor Intelligenz und
dramaturgischer Genialität strotzen. Benjamin Brittens „Peter Grimes“ ist
eine ebensolche Oper. Die Handlung ist verstörend, wie uneindeutig, ist
grotesk und doch realer, als wir vielleicht zuzugeben bereit sind. Die
Inszenierung von Stefan Herheim überzeugt. Musikalisch, nicht nur wegen
Jonas Kaufmann – dieser war zum ersten Mal als Peter Grimes in München zu
erleben – ein großartiges Erlebnis. Und dennoch: Beglückt und erleuchtet
werden wohl die wenigsten das Nationaltheater verlassen haben.
Er ist
schon ein seltsamer Typ, dieser Peter Grimes, ein schroffer, etwas grober
Fischer in einer kleinen ostenglischen Dorf an der Küste. Er ist in der
Dorfgemeinschaft unbeliebt, was allein jedoch noch kein
Alleinstellungsmerkmal ist – in diesem Dorf ist eigentlich sonst auch
niemand wirklich beliebt. Das alles wäre soweit wenig tragisch, wenn da
nicht die Sache mit seinen Lehrjungen wäre: Einer nach dem anderen stirbt
auf mehr oder weniger unklare Weise. Alles Zufall oder kaltblütiger Mord?
Ist Peter Grimes ein skrupellos pädophiler Killer oder einfach ein vom
ständigen Unglück verfolgtes Opfer seiner Gesellschaft?
Dieser
Zwiespalt, als Zuschauer zwischen Mitleid und Verabscheuung hin- und
hergerissen zu sein, ist der an und für sich große Geniestreich dieser Oper.
Stefan Herheim legt sein Augenmerk jedoch eher auf einen anderen, eigentlich
nicht minder interessanten Aspekt: Ohne eine Aktualisierung zu brauchen,
zeigt er in der Welt des englischen Küstendorfes, von Ort und Zeit gelöst,
die sozialen Dynamiken einer verkommenen Gesellschaft, die ihr Opfer sucht
und findet. Obwohl Peter Grimes, des Mordes angeklagt, zu Beginn in einem
etwas kafkaesk anmutenden improvisierten Gerichtsprozess freigesprochen
wird, hält die Gesellschaft ihn weiterhin für schuldig. Freilich schert sich
die Gesellschaft selbst um den Tod des anfangs neuen und am Ende ebenfalls
toten Lehrjungen Grimes’ relativ wenig. Nach seinem Tod wird seiner nicht
gedacht, vielmehr beschäftigt sich das Dorf mit Grimes: „Him who despises
us, we’ll destroy.“ („Der, der uns verachtet, den werden wir zerstören“). In
Pharisäismus ergötzt sich die Gesellschaft, am Ausgrenzen von Peter Grimes,
obwohl sie sich untereinander auch nicht als mehr als eine zufällige
Zweckgemeinschaft empfindet – oder gerade deswegen?
Der Gedanke ist
also spannend, und detailreich ausgezeichnet. Aber ist Peter Grimes wirklich
nur Opfer? Wohl kaum. Er ist ein Pädophiler. Wenn Peter Grimes erzählt, es
brauche unbedingt (minderjährige) Jungs als Gehilfen für seine
Fischertätigkeit überzeugt ebenso wenig wie eine Annahme, dass er das Pech
einfach nur anzöge. Und dieser Aspekt des Pädophilen, ja des Straftäters, er
kommt in Herheims dennoch sehr gelungener Inszenierung zu kurz.
Herheims Inszenierung überzeugt vor allem durch extrem starke Bilder. Die
Szenerie spielt sich zumeist in einer Stadthalle ab, die an ein umgedrehten
Schiffsrumpf und deren Größe und Form je nach Szene verstellbar ist. Im
Hintergrund sieht man immer wieder in wirklich gelungenen Bildanimationen
das Meer, welches nicht nur faktisch eine Gefahr des Küstenortes ist,
sondern auch die Gefühlslage äußerlicher Bedrohung, in Musik und
Inszenierung, im Dorf wunderbar darstellt. Farblich ist alles in der Regel
sehr dunkel gehalten. Der große Chor der Dorfbewohner wird immer wieder in
Szene gesetzt, wenn sich das Dorf gegen Peter Grimes wendet. Immer wieder
wird der Lehrjunge Grimes’, in unschuldigem Weiß gekleidet, in dieser rauen
Umgebung zum Subjekt ohne Bezug. In dieser Welt hat nur Ausgrenzung und
Egoismus Platz, der unschuldige Schutzbedürftige jedoch nicht. Herheim zeigt
dies extrem eindrücklich.
Als Peter Grimes war nun das erste Mal in
München, ja auf deutschem Boden überhaupt, Jonas Kaufmann zu hören. Erst
Anfang des Jahres gab er sein Debüt in dieser Rolle an der Wiener
Staatsoper. Dass Kaufmann in seinem Fach das Nonplusultra ist, zeigte er an
diesem Abend erneut. Die Rolle – Britten schrieb sie einst seinem
Lebensgefährten Peter Pears auf den Leib – ist strapazierend und stimmlich
im Heldentenor-Fach angelegt. Kaufmann singt, wenn es darauf ankommt, in den
großen Chorszenen stark und souverän gegen die Dorfgemeinschaft an, zeigt
aber auch stimmlich in den so herrlich innigen, an die Pianissimo-Grenze
gehenden Stellen die große Farbpalette seiner Stimme. Nicht minder überzeugt
sein Schauspiel. Er ist nicht nur ein begnadeter Darsteller der großen
Helden und Liebhaber, sondern auch des verzweifelten Anti-Helden.
Rachel Willis-Sørensen gibt eine wunderbare Ellen Orford. Sie strahlt noch
den verbliebenen Rest an Empathie und Mitgefühl in diesem Ort aus. Ihr
heller lyrischer Sopran vermeidet zumeist starkes Tremolo und gibt ihr einen
einfache, nicht aufgesetzte Schönheit. Sie bekam den meisten Applaus und
Jubel an diesem Abend. Christopher Purves überzeugt als Balstrode mit seinem
durchsetzungsstarken Bariton und spiegelt die Hin- und Hergerissenheit des
vormaligen Marinekapitäns zwischen Sympathie zu Peter Grimes und dem Ahnen,
gar Wissen, um seine dunklen Seiten eindrucksvoll wider. Obschon sich in dem
Dorf ja nun niemand näher für das wirkliche Geschehen um Peter Grimes’
Verbrechen kümmert, gibt es doch mit der Verbrechens-Touristin Mrs. Sedley
und dem Dorfprediger Bob Boles zwei Charaktere, die näher nachhaken.
Jennifer Johnston zeigt einen etwas skurrilen Mrs. Marple-Verschnitt und
stellte auch stimmlich, nämlich manchmal etwas schrullig schrill, diese
merkwürdige Figur sehr treffend dar. Als Bob Boles gibt Kevin Connors einen,
etwas an den Jochanaan erinnernden, jedoch dem Alkohol zu sehr zugeneigten
Methodisten voller schauspielerischer Finesse und großer
Textverständlichkeit. Alles in allem eine, auch in den kleinen Rollen,
großartige und ausgeglichene Besetzung.
Ganz besonders überzeugt der
Chor, dem in Brittens bekanntester Oper die Hauptrolle zukommt. Oft ist die
Musik rhythmisch, wie harmonisch durchaus vertrackt. Der Chor meistert dies
souverän, nur wenige Stellen wirken leicht wacklig. Der US-Amerikaner Erik
Nielsen steuerte Chor und Orchester durch alle musikalischen Schwierigkeiten
des Stückes. Die Musik lebt vor allem von ihrer Lautmalerei. Oft unterlegt
das Orchester pastellartig das Geschehen auf der Bühne, die Solisten singen
fast schon rezitativisch. Immer wieder hört man in hohen schrillen Geigen
gleichsam das Schreien der kindlichen Opfer Peter Grimes’ aus dem Jenseits.
Nielsen hält immer lautstärketechnisch die Balance und dirigiert im besten
Sinne kapellmeisterlich. Nie hat man das Gefühl, die Solisten würden aus dem
Graben akustisch überwältigt werden. In den die Akte umrahmenden
Zwischenspielen (Interludes) – nicht selten auch im Konzertsaal zu erleben –
zeigt das Orchester seine ganze Klasse. Ohne die Extreme zu überziehen,
beschreibt Nielsen mit dem Bayerischen Staatsorchester eine eindrücklich
raue Landschaft – an der Küste, wie in den Herzen der Menschen.
Allein wegen dieser Musik lohnt sich der Besuch des Peter Grimes allemal.
Mal spätromantisch an Schönbergs „Gurre-Lieder“ anklingend, mal
impressionistisch wirkend, mal an den tonalen Grenzen kratzend, ist sie ein
wirkliches Erlebnis. Die Handlung ist voller Tiefenschichten und spannender
psychischer Fragestellungen. Beschwingt und beglückt wird man wohl nicht
nachhause gehen, denn diese Figur des Peter Grimes wühlt auf und treibt
einen um. Wer ist dieser Mann? Ist er wirklich nur ein schlechter Mensch?
Die Unklarheit der Figur hat etwas Anziehendes. Dieser Abend war auf also
alle Fälle ein beeindruckendes Erlebnis. Jonas Kaufmann als Peter Grimes
werden wir hoffentlich noch öfter zu hören bekommen. Was man insofern trotz
aller Fragen über die Person Peter Grimes festhalten kann: In dubio pro
Kaufmann.
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