Concerti, 10.12.2021
Von Peter Krause
 
Verdi: Otello, Teatro San Carlo Napoli ab 21.11.2021
Von der Sucht der Selbstzerstörung
 
Heldentenor Jonas Kaufmann, Filmregisseur Mario Martone und Maestro Michele Mariotti verlegen den späten Verdi im armen italienischen Süden fulminant in die Gegenwart.
 
Diese Stadt ist große Oper – und dies nicht nur im stolzen Teatro San Carlo, das in seinem scheinbar direkt den antiken Amphitheatern im nahen Pompei abgeschauten Hufeisenhalbrund ganze sechs Ränge fasst. Auch im ganz normalen Leben sind die Emotionen um jene entscheidende Spur gesteigert, sodass dieses Leben immer auch etwas größer wirkt als bloßer immergleicher Alltag. Damen sprechen mit erhobener, oft durchdringender Stimme. Die Szenen, die sie ihren Geliebten machen, sind von theatralischer Dramatik, die für Außenstehende seltsam zwischen Ernst und Komik schwanken. Es kann wohl kein Zufall sein, dass eben hier in Neapel die Commedia dell’arte erfunden wurde, somit das auf den Straßen der Stadt aufgeführte komische Stegreiftheater, das seine scharf gezeichneten Typen direkt dem Leben entlehnte.

Kunst ist Leben, Leben ist Kunst

Selbst eine große Shakespeare-Tragödie wie der „Otello“, den Giuseppe Verdi am Ende seiner Komponistenlaufbahn in Töne setzte, scheint hier wie selbstverständlich hinzugehören – als ein Kunstwerk, das geradewegs aus dem Leben gegriffen ist. Der gefragteste Tenor unserer Zeit gibt den Mohren von Venedig nun hier am Golf von Neapel. Mit dem Einzug des französischen Intendanten Stéphane Lissner sind auch die Stars hierher zurückgekehrt. Jonas Kaufmann also singt die Titelpartie, Maria Agresta ist Desdemona. Später in der Saison soll auch Anna Netrebko hier vorbeischauen – als Verdis Aida. Just mit der Nennung des Namens der teuersten Opernsängerin der Gegenwart ergibt sich für den neuen neapolitanischen „Otello“ gleichsam ein Fernduell: Denn parallel zur Vorstellungsserie von Verdis Spätwerk eröffnete das Teatro alla Scala seine Saison – wiederum mit Verdi, wiederum auf einem Meisterwerk William Shakespeares basierend, allerdings in Mailand mit dem rabenschwarzen frühen Geniestreich „Macbeth“, in dem die Zahl der Toten es ja durchaus mit dem „Otello“ aufnehmen kann.

Das Fernduell zwischen Reich und Arm wird klar entschieden

Um das Ergebnis des Duells vorwegzunehmen: Neapel schlug Mailand klar in vier Akten. Denn während in der reichen Metropole des Nordens das Drama im filmischen Overkill und aufwändigen Bühnenbauten bildlich banalisiert wird, wo bloße Behauptungen von Modernität im von Davide Livermoore müde arrangierten Stehtheater der Anna Netrebko als Lady und Luca Salsi als Macbeth in nichtssagenden Mottenkistentheater münden und wo der musikalische Hausherr, Riccardo Chailly, die lodernde Leidenschaft des Bösen mit verschleppten Tempi schon im Keim erstickt – da setzt das Teatro San Carlo im chronisch armen Süden des Stiefelstaats auf genuin welthaltige Oper. Stéphane Lissner setzt nicht nur auf Sängernamen, er will, dass die Oper auch hier in der Gegenwart ankommt, dass Neapel in Regiedingen behutsam gen Mitteleuropa geführt wird. Das klappt auf erstaunlich natürliche Weise. Denn Mario Martone macht in der seiner Inszenierung mit präziser Figurenzeichnung die Identifikation der Renaissancefiguren mit Menschen von heute möglich.

Ein gegenwärtiges Geschlechterverhältnis und ein ganz normaler Mörder

Der selbst in Neapel geborene Film- und Theaterregisseur weiß zumal genau, wie es mit dem Geschlechterverhältnis in seiner Heimat so steht. Mutige und emanzipierte Frauen stemmen sich hier gegen den überkommenen Machismo des angeblich starken Geschlechts. Noch immer ermorden Ehemänner, die sich – in der Gesellschaft stillschweigend akzeptiert – dauerhafte Geliebte leisten, in erschreckend hoher Zahl ihre Frauen. Brave Opfer wollen die Italienerinnen des 21. Jahrhunderts freilich längst nicht mehr sein. Und so ist diese neapolitanische Desdemona bei Martone eben eine selbstbewusste junge blonde Frau. Maria Agresta macht in ihrer Uniform denn auch ebenso und wirklich gleichberechtigt Bella figura wie Jonas Kaufmann als Otello. Denn im Zeltlager in der arabischen Wüste, in dem eine westliche Armee sich als dezidiert anständige Besatzer um Flüchtlinge kümmert, ist Desdemona dem Feldherrn Otello nur um wenige Dienstgrade unterstellt. Der Held zeichnet die junge Soldatin zu Beginn mit einem Orden aus. Die beiden haben ein Verhältnis auf Augenhöhe. Die Eifersucht, Reizbarkeit und latente Unsicherheit Otellos rührt bei Martone indes nicht aus dessen sozialer Außenseiterrolle her. Otello ist also kein ehrgeizig nach Anerkennung strebender Minderheitenmann, sondern weithin akzeptierter Offizier. Seine Schwäche, auf die falschen Einflüsterungen Jagos hereinzufallen und Desdemona in der Folge Untreue zu unterstellen, könnte in diesem Umfeld jeder entwickeln: Otello – hier natürlich ohne schwarze Schminke im Gesicht – wird zum Jedermann, der zum Mörder seiner Frau mutiert.

Allgegenwärtige Abgründe des Menschseins

Die Entscheidung des Regisseurs, von heutigen Menschen in einer Armee der Gegenwart in einem erstaunlich unschmutzigen Einsatz im Nahen Osten zu erzählen, ebnet zwar im atmosphärisch allzu idyllisch schönen Wüstensand und unter traumhaftem Sternenhimmel deutlich ein, was Shakespeare, Librettist Boito und Verdi selbst an sozialem Sprengstoff in ihr Stück geschrieben haben. Aber über den Umweg der Psychologisierung erfahren wir dann doch viel Bedeutsames über die ganz alltäglichen Abgründe des Menschseins. Und die passieren dann womöglich im immer noch verrufenen Bahnhoftsviertel von Neapel ebenso wie im fernen Wüstensand.
Pianissimi wider die Traditionsschlamperei

Ganz im Gegensatz zum Mailänder „Macbeth“ wird das Regiekonzept des „Otello“ von enormen Sängerdarstellern beglaubigt. Maria Agresta ist fern der hingebungsvollen Schwärmerin eine Desdemona, die weiß, was und wen sie will und die in ihrer Dienerin Emilia (Manuela Custer mit dramatisch präsentem Mezzofeuer) einer echten Freundin von heute ihr Herz ausschüttet. Ihr Sopran hat herrliche Klarheit, nur dezentes Vibrato und verströmt natürliche Direktheit. Jonas Kaufmann meidet schon ganz zu Beginn mit dem vom Publikum geliebten „Esultate“ die Gesten der Überwältigung und des Heldenglanzes. Das Duett mit Desdemona wagt er, durchgängig in Piano und Pianissimo zu singen, die Vision der Vereinigung der beiden so unterschiedlichen Liebenden wird in der vokalen Zartheit beider Sänger ideal verwirklicht. Vor allem die Sucht der Selbstzerstörung vermittelt Kaufmann mit seiner klug ausgeleuchteten Deutung des Otello. Statt mit Heldentönen zu protzen, setzt er auf Verinnerlichung. Dem italienischen Publikum scheint hier mitunter der tenorale Strahlemann zu fehlen. Nach der Tradition singt man den Otello anders. Da an diesem Abend aber wirklich alle Ebenen ineinandergreifen, befreit auch Igor Golovatenko seinen Jago von allzu vordergründiger Baritonbosheit und plumper mephistophelischer Schwärze. Auf diesen Intriganten, der agile, wohlartikulierte und durchaus auch schöne Töne kennt, fallen eben auch intelligente Menschen herein.

Subkutan drängende Orchestertöne führen in die Tragödie

Nicht nur gestützt, sondern befeuert wird die unkonventionelle Sicht auf das Werk von Michele Mariotti. Er sucht und findet mit dem Orchestra del Teatro di San Carlo die Zwischentöne, die lyrischen Linien, das subkutan Drängende hinein in die Tragödie. Und – Neapel ist die Stadt des Südens, in der man noch auf der Straße singt – jedes Mitglied im Orchester scheint aus dem Graben heraus einfühlsam mit den Sängern auf der Bühne zu atmen. Das ist große Oper und aufregendes Musiktheater zugleich.













 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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