Der Standard, 19. September 2020
Ronald Pohl
 
Sommernachtskonzert, Wien, Schönbrunn, 18. September 2020
"Sommernachtskonzert" in Schönbrunn: Schmalz für Fidschi
 
Trotz Pandemie: Die Wiener Philharmoniker unter Valery Gergiev entboten musikalische Hoffnungsgrüße in 87 Länder
 
Das Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker ist eine klingende Grußpostkarte wie aus den Anfangstagen der Eurovision. Man dreht am Knopf des Fernsehers und landet unverzüglich, gleich einem abendlichen Träumer, im fein säuberlich geharkten und gezupften Schlosspark von Schönbrunn. Das kulturelle Österreich, voran seine prominentesten Kulturbotschafter, begibt sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit zurück an die Quelle seiner Wertschöpfung: und das nicht nur, weil die barocken Brunnen, von den ORF-Kameras angestrahlt, bronzefarben überfließen.

Mit viermonatiger Verspätung ließen sich gestern Freitag die Bewohner von knapp 90 Ländern – unter ihnen Bhutan, Fidschi und Tansania – zeitversetzt Mores lehren. "Liebe" lautete das Motto. Gemeint war damit wohl nicht so sehr die versehrende Glut blinder Leidenschaft, sondern die milde Güte altweibersommerlicher Zuwendung. "Die Kultur trotzt Corona", ließ sich ORF-Kommentatorin Teresa Vogel dazu mit gedämpfter Zuversicht vernehmen. Trotz Pandemie lassen wir Angehörigen der Weltgemeinschaft den Mut nicht sinken!

Etwas ernüchternd fiel dagegen das Ambiente aus. Der Welt berühmtester Klangkörper barg seine festlich betuchten Glieder unter einem gekrümmten Dach. Man meinte staunend, die weltberühmte Tullner Gartenmesse hätte eine Expositur gleich hinter des Kaisers Schloss errichtet. Immerhin die Vogelschau ermöglichte sinnvolle Vergleiche. Einige der Beete hatten exakt dieselbe Form wie die spiralförmigen Klanglöcher, wie man sie auf Cello oder Geige entdecken kann!

Honigsüßer Schmelz
Publikumstechnisch stand die Veranstaltung im Zeichen notwendiger Selbstbescheidung. Nur 1250 Live-Gäste lauschten statt der gewohnten 100.000 dem honigsüßen Schmelz der "Phillies" vor Ort. Strauss? Ja, und Strauß Sohn! Daneben die eigentlich rezeptpflichtige Tonillustration zu "Doktor Schiwago" (Maurice Jarre), nicht zu vergessen die Titelmelodie der berühmten Schifffahrtsserie "Die Onedin-Linie". "Wien, du Stadt meiner Träume" wurde aus unerfindlichen Gründen erst als Zugabe gegeben, mit Tenor Jonas Kaufmann als freundlich-melancholischem Lebemann. Die "Reblaus" ließ man heuer überhaupt aus.

Als "positives Signal" möchte man die Klangbotschaft verstanden wissen: schauerlich mikrophoniert, von einem Dirigenten (Valery Gergiev) mehr begleitet als inszeniert, dessen eine Hand – die ohne Zahnstocher! – die schlappe Wellenbewegung im barock-kakanischen Ermüdungsbecken nachahmte.

Auch das ist das Bild, das Österreich von sich inmitten der Pandemie verbreitet: Während die ganze Welt das Steigen der Fallzahlen quittiert, fließt durch Schönbrunns Pumpen das immer gleiche, süß schmecken wollende Wasser. Ein Weltorchester, bestehend aus überwiegend älteren, weißen Herren, begleitet die Erzählung von den "reizenden Frauen im schönen Wien", wenn "der Abendwind in den Bäumen singt" (Emmerich Kálmán).

Imperiale Kulissen
Ein Kulturland lebt ein weiteres Mal vom Gebrauch der als Gemütskitsch missbrauchten, bedeutungsleer gewordenen imperialen Kulissen. Nichts – außer dem pflichtschuldig eingeblendeten Bild von der Harfenistin – erzählt von der Gegenwart: ihren Dilemmata einer im Übergang begriffenen Repräsentation. Vom ökonomischen Kollaps, der im Weltmaßstab droht, zu schweigen.

Der Wert einer plötzlichen Einsicht, wie nur Musik sie zu verschaffen vermag, wird gegen Überzuckerung getauscht. Die Wertschöpfung der "Kulturnation" misst sich am Gedeihen ihrer heimischen Hotellerie. Insofern wird jedes "Sommernachtskonzert" als vorausblickende Investition verstanden. "Kulturell" heißt man Güter, die man stets aufs Neue valorisiert. So gesehen, ist natürlich auch ein Walzer wie "Wiener Blut" eine schöne Vorleistung auf das Zirkulieren künftiger Gäste: durch Wiens Parks und kopfsteingepflasterte Gassen.

Doch bis es wieder so weit ist, überbrücken die Philharmoniker die Zeit, indem sie eine Art ewiger Abendröte ausrufen. Bis es endgültig Nacht geworden ist in der Kulturnation.











 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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