Abendzeitung, 01. Dezember 2020
Dr. Michael Bastian Weiß
 
Puccini: La Bohème, Bayerische Staatsoper, 27.11.2020 (im Internet-Stream ab 30.11.2020)
"La Bohème" im Livestream: Notprogramm mit viel Schokolade
 
Rachel Willis-Sorensen und Jonas Kaufmann in Puccinis "La Bohème" als Montags-Livestream aus dem Nationaltheater.

München - Würde man diese "Bohème" in der Staatsoper erleben, im Saal sitzend, würde einem diese Inszenierung vorkommen wie ein gelbes Telefonhäuschen unter blinkenden Handys: antiquiert, klobig, aber liebenswert. Otto Schenk hatte Giacomo Puccinis wohl populärste Oper 1969 inszeniert, und man hätte Verständnis dafür, wenn der mittlerweile 90-Jährige sich selbst nicht mehr daran erinnern könnte.

Auf dem Bildschirm wirkt der bläuliche Schnee malerisch
Doch im Corona-Jahr ist alles anders. Für die Übertragung im Internet eignet sich diese Produktion, die vor wenigen Tagen aufgezeichnet wurde, vielleicht besser als eine Neuinterpretation. Auf jeden Fall sieht der bläuliche Schnee im dritten Bild auf dem Bildschirm ganz malerisch aus, während man im Theater über den Naturalismus lächeln würde.

Atmosphäre mau, Szenen-Applaus wird vermisst
Bislang waren die "Montagsstücke" der Staatsoper Live-Konzerten vorbehalten, dieses Mal wird ein vorproduziertes Video gestreamt. Es ist auch hier so, wie es bei Opernfilmen immer ist: Der Zuschauer kommt mit der Kamera nahe an das Geschehen heran, aber die Atmosphäre fehlt. Spätestens nach dem Kennenlernen von Mimì und Rodolfo vermisst man Szenen-Applaus. Rachel Willis-Sørensen ist kein niedliches Mädchen, sondern eine junge, leidenschaftliche Frau, die ihren betörenden Gesang sanft einhüllen, lebendig vibrieren oder idealistisch emporschwingen lassen kann.

onas Kaufmann: Abgeklärt in seiner Kunst
Ihr gegenüber wirkt Jonas Kaufmann reifer mit seinem schokoladig dunklen Timbre und abgeklärter in seiner Kunst, Spitzentöne makellos in die melodische Linie zu integrieren. Beide sangen ihre Rollen zum ersten Mal in München, beide hätten frenetisches Bravo so verdient gehabt wie auch die Estin Mirjam Mesak, deren delikate Phrasierung ihre Musetta kapriziös, aber nicht zickig macht.

Dirigent Asher Fisch findet instrumentale Bilder
Kaum zu entscheiden ist, wer von den beiden baritonalen Bohemiens geschmeidiger singt, Andrei Zhilikhovsky als Marcello oder Sean Michael Plumb als Schaunard, während Tareq Nazmi als Colline eine wohlige Schwere bekommen hat, die man vor wenigen Jahren noch nicht wahrnehmen konnte.

Schade ist, dass man Asher Fisch nur beim ersten Einsatz kurz im Bild erblickt. Sonst könnte man dem Dirigenten dabei zusehen, mit welchem Impetus er in die Oper hineinspringt, wie er ein quirliges Tempo durchhält, aber bei den Arien keine Scheu davor hat, einen Auftakt unendlich in der Luft schweben zu lassen. Mit dem Bayerischen Staatsorchester findet er instrumentale Bilder für diese Künstleroper: Die Streicher schimmern mild wie Kerzenlicht, die Holzbläser setzen impressionistische Tupfer, die Tutti rauschen mit weich singenden Trompeten auf wie warme Wellen.

Könnte man bei künftigen Videoproduktionen nicht ab und zu in den Graben schwenken? Wenn man solche Möglichkeiten, die man bei einem normalen Theaterabend nicht hat, nutzen würde, könnte dieses Format mehr sein als ein Notprogramm in Pandemiezeiten.






 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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