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Ioco, Dezember 15, 2019 |
von Hans-Günter Melchior |
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Korngold: Die tote Stadt, Bayerische Staatsoper, ab 18. November 2019
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Die Kathedralen des Gewesenen |
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Die schwarzen Wolken der Trauer hängen tief in dieser Oper. Doch die
Bemühung von Freuds Psychoanalyse, die sich mit der Traumdeutung und der
Trauerarbeit ausführlich beschäftigt, erscheint angesichts der literarischen
Unentschiedenheit des Librettos ebenso ein wenig zu weit hergeholt wie der
Hinweis auf die Schrecken des 1. Weltkriegs.
Paul lebt in der
zumindest heute höchst lebendigen Stadt Brügge. Er hat seine geliebte Frau
Marie verloren und betreibt eine Art Totenkult, indem er einen Raum seines
Hauses mit „Devotionalien“ füllt, die an die Tote erinnern: ein verhülltes
Porträt, eine Haarsträhne Maries. Er nennt diesen hermetischen Raum die
„Kirche des Gewesenen“.
Auf der Straße begegnet ihm zufällig die
junge Tänzerin Marietta. Er ist fasziniert von ihrer Schönheit, sieht in ihr
eine Erscheinung Mariens (nomen est omen), eine Wiederauferstandene
sozusagen, und schwärmt bei seinem Freund Frank von ihr. Frank (Andrzej
Filonczyk), sorgenvoll und am Seelenzustand des Freundes zweifelnd, den Wahn
diagnostizierend: „Du schwärmst für ein Phantom.“ Paul bittet seine
Hausgehilfin Brigitta (eindrucksvoll Jennifer Johnston) die vor der Tür
stehende junge Dame einzulassen.
Hin und her geht es nun im weiteren
Verlauf des Geschehens zwischen den beiden, Marietta und Paul, die sich
anfreunden, ein Paar werden, mal hält er sie für die reale Marietta, mal –
verwirrt – wieder für Marie, mal wirft er ihr Untreue vor, weil sie, die
reale Frau, sich mit dem Freund Frank einlässt und auch sonst ein ziemlich
freies, ungezügeltes Leben inmitten einer Schauspiel/tänzertruppe führt,
dann wieder sieht er eine Art Heilige in ihr. Bald liebt er also in ihr
Marie, bald liebt er sie so, wie sie in Wirklichkeit ist, schwankend geht es
zu zwischen den beiden, dass die Zuschauer ständig differenzieren müssen,
ist jetzt Marie oder Marietta gemeint, sind wir in der fiktiven Realität der
Oper oder im fiebrigen Traum Pauls. Marietta, der wirklichen Frau also,
widerstrebt jedenfalls die Verwirrung, sie kann und will nicht teilen mit
einer Toten: „Ich aber, hör mich, ich will dich gar nicht – oder ganz.“
Und sie treibt ihren Spott mit Paul. Er nimmt es zunächst hin. Als sie
aber übertreibt und die Haarsträhne der verstorbenen Marie, vor Paul
kokettierend, auf den Kopf setzt, dreht er durch: er erwürgt Marietta.
Aber gemach –, nicht gleich vor Entsetzen auf dem Sitzplatz hin- und
herrücken, das alles ist ja doch nur ein Traum, ein Albtraum, eine
Fieberphantasie des armen Paul gewissermaßen und im Grunde ist die Ordnung
noch intakt. Das Libretto macht es uns weis. Frohgemut betritt nämlich
Marietta (die Erwürgte?) erneut das kleinbürgerliche Haus. Sie habe ihren
Schirm vergessen. Eine deus-ex-machina-Szene. Alles nicht so schlimm. Wir,
Komponist und Librettist, richten das schon.
Paul zerfließt nun in
einer Art elegischer Katharsis, singt sich sozusagen in einer Belcanto-Arie
frei und gelobt, sich mit dem Tod der geliebten Frau endlich abzufinden. Man
kann sich beruhigt zurücklehnen, Paranoia – oder sowas Ähnliches, Katharsis
eben, Konfrontation mit dem angstmachenden oder belastenden Ereignis,
Anerkennung der Realität, Heilung – und Vorhang. „Ein Traum hat mir den
Traum zerstört,/Ein Traum der bittren Wirklichkeit“. Wobei man sich fragt,
was ein Traum der bittren Wirklichkeit eigentlich sein soll.
Nun ja
–, psychoanalytische Versatzstücke kann man immerhin doch dem etwas kruden
Text entnehmen. Freilich lässt er der Interpretation viel Raum. Man könnte
sogar einen – erinnerten, nachgestellten – Mord an der geliebten Frau ins
Geschehen hineinphantasieren, schließlich sieht die Marietta mit der
Haarsträhne Mariens, jene Marietta also, die zu erdrosseln sich Paul
anschickt und dabei den Taterfolg herbeiführt, ja wie die Marie aus.
Paulgeht also einer Frau an die Gurgel, die seiner Marie ähnelt. Oder sogar
für ihn in traumhafter Verkennung der Realität Marie ist. Oder irre ich mich
da?
Ungereimtheiten. Ein Strafgericht jedenfalls hätte erhebliche
Mühe, aus den sich aufdrängenden Gedankensträngen eine schlüssige
Mordgeschichte zu stricken –; während Staatsanwalt und Verteidiger zugleich
und genüsslich an den heraushängenden Schnüren zögen, um die Konstruktion
aufzudröseln.
Ja –, und fast wäre Paul auch noch fromm geworden. Den
Spott Mariettas herausfordernd („Du bist ja fromm!“), so richtig
gläubig-katholisch: nämlich beim Anblick der in den Gottesdienst ziehenden
Beghinen (seine Hausgehilfin Brigitta war unter ihnen) und des Kinderchors,
hervorragend disponierte Chöre, für die Stellario Fagone verantwortlich
zeichnete.
Was die Musik angeht, durchschreitet der Komponist
Korngold nicht nur kleine Kirchen, sondern wahre Kathedralen des
„Gewesenen“. Er kniet vor den Altären berühmter Vorgänger und leiht sich
stilistisch-kompositorische Einfälle von vielen Seiten. Man hört
Assoziationen an Wagner (Tannhäuser), Berg, Mahler und nicht zuletzt
Puccinis Belcanto heraus; und erst spät findet die Musik in dieser Oper zu
einer eigenen Tonsprache. Vor allem wenn sie zuweilen (freilich selten) ins
Dissonante, Atonale oder Chromatische ausbricht und der Verwirrung der
Gefühle freien Lauf lässt.
Ein musikalischer Höhepunkt allerdings:
die bemerkenswert auskomponierte und vielschichtige Dritte Szene, die das
Treiben der Tänzergesellschaft mit nervöser Instrumentation nachzeichnet.
Aber was soll alle Krittelei. Komponisten ziehen nicht zuletzt den
Geschmack ihres Publikums in Betracht. Was soll daran Unrecht sein? Verrat
an der Kunst ist es nicht, wenn es so gut passt wie hier.
Das
Publikum in München folgte hingerissen der zweifelsfrei höchst
unterhaltsamen Aufführung. Die von Simon Stone in Zusammenarbeit mit Maria
Magdalena Kwaschik besorgte Inszenierung – Bühne Ralph Myers – zeigt
modellartig aufgeklappte Häuser, in denen Paul und Marietta wohnen. Die
Akteure verschwinden in den Räumen schnell und tauchen in Sekunden in einem
anderen Zimmer auf, was in den Handlungsablauf Tempo und Bewegung bringt. Da
kommt keine Langeweile auf, immer ist etwas im Gange, statisches Verharren
an der Rampe ist ausgeschlossen. Die Zuschauer haben etwas zu tun im
Mitverfolgen des Geschehens, es ist für Spannung und Perspektivenwechsel
gesorgt. Nur die schöne Stadt Brügge kommt auf der Bühne nicht vor. Sie ist
ja auch tot –, aber nur in Pauls Augen.
Was die Opernbesucher
geradezu fesselte, waren die Darbietungen der drei Hauptpersonen: des Pauls
von Jonas Kaufmann, der Marietta (alias Marie als Erscheinung) von Marlis
Petersen und Kirill Petrenkos Dirigat, das die Oper perfekt interpretierte.
Jonas Kaufmanns heller Tenor beherrscht alle Facetten der Partie, vom
lyrischen Belcanto bis hin zum Verzweiflungsausbruch bei der Klage um den
Verlust der geliebten Frau. Man spürte wie er in seiner Rolle aufging, ja
sie geradezu liebte. Auch sein ins Psychologische gehendes Spiel war
nuanciert, von nachzeichnender Feinheit. Man glaubte ihm – über die
literarischen Unebenheiten des Librettos hinwegsehend – das Leid und die
Hingabe, die Wut und die fahle Leere der Hoffnungslosigkeit.
Ein
Erlebnis ganz eigener Art verschaffte freilich die Darbietung der
großartigen Marlis Petersen. Was für eine Ausstrahlung! Welche Eleganz und
tänzerischer Beweglichkeit. Erotisch, gelenkig, dabei voller Hingabe,
liebende Frau und zynischer Vamp, lebensgierige Künstlerin, Verführerin und
ratlose Geliebte, alles in bewundernswerter, empfindsamer Wahrheit. Und dann
die Stimme: ein Erlebnis, eine gesangliche Ausnahmeleistung, ins Miterleben
hineinziehend. Petersen beherrscht stimmlich und darstellerisch alle Nuancen
der schwierigen Partie, das ist einsame Höhe, große Kunst. Ein Genuss
eigener Art.
Das Dirigat von Kirill Petrenko war von gewohnter
Präzision und Eindringlichkeit. Straffe Tempi, in der Dynamik und im Tempo
ausgewogen. Petrenko hielt die Spannung, zeichnete mit seinem hervorragenden
Orchester die Vorgänge auf der Bühne nach, interpretierte sie und vertuschte
dabei keineswegs die Anleihen des jungen Komponisten bei großen Vorbildern.
Fast ironisch klangen Wagner und Puccini durch: als befänden sich Löcher im
Klangteppich, Einblicke gewährend.
So wurden am Ende die Einwände des
Kopfes von der Musik, vor allem von den Gesangsleistungen, überredet. In der
Pause sagte ich so nebenbei zu einer Bekannten: da hat der Korngold aber
viele Anleihen bei großen Komponisten gemacht. Ein Zuschauer im Vorbeigehen,
der das hörte: Jawohl, er hat geklaut, aber ganz hervorragend. So Unrecht
hat er nicht. Alle Künstler stehen auf den Schultern ihrer Vorgänger.
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