Abendzeitung, 19. November 2019
Robert Braunmüller
 
Korngold: Die tote Stadt, Bayerische Staatsoper, ab 18. November 2019
Erich Wolfgang Korngolds "Die tote Stadt"
 
Der eigentliche Alptraum ist die Familie. Erst sind alle Türen der Wohnung nicht mehr dort, wo sie früher einmal waren. Dann wird Paul alleinerziehender Vater. Die Söhne werfen in der Küche mit Cornflakes, die Töchter veranstalten im Schlafzimmer eine Kissenschlacht und die Jüngste will dem überforderten Papa unbedingt das neueste YouTube-Video zeigen.

Simon Stone hat Erich Wolfgang Korngolds symbolistisch-schwüle Oper „Die tote Stadt“ an der Bayerischen Staatsoper ins Hier und Heute verlegt. Die mittelalterliche Stadt Brügge spielt keine Rolle. Alles konzentriert sich auf die Psychologie der Hauptfigur Paul und ihre im Traum geleistete Trauerarbeit nach dem Verlust der großen, idealisierten Liebe. Statt einer im Original dem morbiden Lokalkolorit geschuldeten Prozession zeigt der Regisseur im dritten Akt erst chaotisches Familienleben. Dann vervielfacht sich der Chor zu lauter Doubles der Hauptfiguren, ehe sich Paul von der Erinnerung im Traum durch einen Mord an Maries Doppelgängerin befreit.

Traumarbeit im Fertighaus
Was schon bei Korngold leicht wienerisch-psychoanalytisch wirkt, kommt bei Stone vollständig zu sich. Umstandslos lässt die Inszenierung den Zuschauer von der Realität in den Traum hinübergleiten. Wenn dann im zweiten Akt die Räume des Fertighauses aufeinander getürmt sind und ineinander verschwimmen, wird es deutlich genug, dass die Ebene gewechselt hat (Bühne: Ralph Myers).

Auch Maries Haarflechte, die zentrale Reliquie der Verstorbenen, landet sehr konkret in der Gegenwart: In Stones Inszenierung wird daraus Maries blonde Perücke, die sie nach einer Chemotherapie vor ihrem Krebstod trug. Und der penible Bühnen-Realismus passt bestens zu einem Doppelgänger- Stoff, der lange nach Korngolds Oper und Georges Rodenbachs Romanvorlage in Hitchcocks „Vertigo“ zurückkehrte.

Die Bayerische Staatsoper leistet sich für diese Oper eine nahezu ideale Besetzung. Die Stimme von Marlis Petersen ist zwar womöglich nicht dramatisch genug für die Doppelrolle von Marie und der ihr zum Verwechseln ähnlichen Marietta. Aber die Sopranistin übertrifft sich selbst als singende Schauspielerin, die im virtuosen Wechsel eine gespenstische Krebskranke und eine leicht kokette Tänzerin verkörpert, die als moderne junge Frau jeden Zug zur Femme fatale verloren hat.

Ins Ätherische überhöht
Jonas Kaufmann gibt sehr überzeugend den von seinen Gefühlen überforderten Fertighausbesitzer im Anzug und Trenchcoat. Der Sänger hat kein Problem, sich in einer erotischen Szene mit heruntergelassenen Hosenträgern ein wenig lächerlich zu machen. Die zuletzt hörbaren Kratzer seiner Stimme wirken geglättet, sein baritonaler, dunkel glühender Tenor ist ideal für die musikalische Darstellung eines gebrochenen Charakters, auch wenn ihm bisweilen der letzte Schmelz fehlt.

Das passt gut zum Ansatz von Kirill Petrenko, der alles Üppige kontrolliert ins Ätherische überhöht und mit schlagzeuggesättigter Ekstatik kontrastiert. Deutlich kommt heraus, dass der riesige Orchesteraufwand einschließlich der so dezent wie deutlich hörbaren Orgel vor allem der Kolorierung dient. Auch wenn Korngolds üppige Spätromantik meist als Mischung von Richard Strauss und Giacomo Puccini beschrieben wird: Im Nationaltheater denkt man bei der einen oder anderen Länge mehr an Franz Lehár und Franz Schreker.

Von einem Problem zum nächsten
Jonas Kaufmann und Marlis Petersen umgibt ein ausgezeichnetes Ensemble, aus dem Jennifer Johnston als Brigitta herausragt. Der hell timbrierte Bariton von Andrzej Filonczyk ist zwar schön, aber nicht ideal für die satte Melodie von „Mein Sehnen, mein Wähnen“ im zweiten Akt. Dass die Aufführung von Maria-Magdalena Kwaschik in enger Absprache mit dem wegen eines überraschenden Netflix-Projekts abhandengekommenen Regisseur einstudiert wurde, sei nur vermerkt, um die Mitarbeiterin von Simon Stone zu loben: Alles wirkt szenisch perfekt.

Korngolds „Die tote Stadt“ steht im Regal unterschätzter Opern neben Schrekers „Die Gezeichneten“, der „Ägyptischen Helena“ von Richard Strauss und Hans Pfitzners „Palestrina“. Von diesen ähnlich überreifen Spätestromantikern unterscheidet sie sich nicht nur durch zwei Ohrwürmer, die man nur schwer los wird. Ihr Thema, die Trauer und die Verarbeitung eines Verlusts, spricht den heutigen Zuschauer unmittelbar an.

Im Nationaltheater endet die Geschichte offen, mit einer hastig hinuntergestürzten Flasche Bier. Marietta hat ihren Regenschirm absichtlich dagelassen. Paul überwindet vielleicht seine Trauer, aber womöglich handelt er sich mit dem Alkohol das nächste Problem ein.





 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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