Opernwelt, Februar 2016
Christian Merlin
 
Berlioz: La damnation de Faust, Paris, Opera Bastille, 8. Dezember 2015
Mit dem Teufel ins All
 
Endlich wieder ein Skandal an der Pariser Oper! Es ist erfrischend. Gelacht wird in der Aufführung, gerufen und geheult, so laut, dass der sonst so gelassene Philippe Jordan den Zuschauerraum um Ruhe bitten muss, damit man wenigstens das (von Christophe Grindel betörend schön gespielte) Englischhornsolo hören kann. Seit den Gerard Mortier-Jahren haben wir eine solche Stimmung an der Bastille nicht mehr erlebt.

In «Moses und Aron» hielt das Zusammenspiel von Musik (Philippe Jordan) und Szene (Romeo Castellucci) die Zuschauer so fest gepackt, dass sie auf ihren Plätzen saßen wie gebannt (siehe OW 12/2015). Nach Krzysztof Warlikowskis Bartök-Poulenc-Abend: einhelliger Zuspruch. Aber Alvis Hermanis' Inszenierung von Berlioz' «La Damnation de Faust» brachte das Premierenpublikum in Rage. Dass es gleichzeitig der Gala-Abend des Fördervereins der Oper (Association pour le Rayonnement de l'Opéra national de Paris) war, trug sicher nicht zur Beruhigung der Gemüter bei: «Für so eine Schweinerei geben wir denen auch noch Geld!» — dergleichen war während der Pause in mancher Runde zu hören.

Eine solche Reaktion scheint uns völlig unverhältnismäßig. Der Ansatz des lettischen Regisseurs ist kühn, aber überzeugend. Wer entspricht in unserer Zeit am ehesten der Figur des Gelehrten Faust, seinem Streben nach Erkenntnis, seinem Drang, die Natur zu beherrschen? Hermanis' Antwort: der Physiker Stephen Hawking, der der schweren Erkrankung seines Nervensystems (amyotrophe Lateralsklerose) zum Trotz die Forschung über schwarze Löcher, die Entstehung von Materie und Raum-Zeiten weiterführt. Erst kürzlich erklärte er (zum ersten Mal), dass es für die Entstehung des Universums keines Gottes bedurft habe. Ebenso machte er sich für das «Mars One»- Projekt stark, das eine Besiedelung des Mars vorsieht. Hermanis sieht darin eine moderne Form des Teufelspakts.

Wir befinden uns in einer Welt nach der großen Katastrophe. Die Bühne ist eine Art Raumfahrtzentrum, in dem Wissenschaftler (darunter Mephisto und Brander in weißem Kittel) die Expedition zum Mars vorbereiten. Natur gibt es nur noch in künstlichen Habitaten, in Gestalt von Versuchstieren oder Zuchtblumen aus dem Gewächshaus, oder als (Film)Dokument aus vergangenen Zeiten. So wird, als Marguerite die Liebe besingt, die Paarung von Schnecken vorgeführt — eine beklemmend grandiose Szene. Die Hauptfigur ist Stephen Hawking, der gelähmte Wissenschaftler, meisterhaft dargestellt von Dominique Mercy, dem ehemaligen Startänzer in Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater. Am Ende stürzt er aus dem Rollstuhl, glaubt sich im Wahn von der Schwerkraft befreit: ein machtvolles poetisches Bild, keinesfalls empörend.

Die Grundlagen für eine spektakuläre, virtuose, moderne Aufführung sind damit gelegt. Auch wenn Hermanis manchmal an sich selbst scheitert, weil er zu viel zeigen will, die Bühne überlädt: Es bleibt ein eindrucksvoller Abend. Keiner der immer wieder vorgebrachten Einwände erscheint uns triftig. Kein griffiger Handlungsbogen, kein roter Faden? Im traditionellen Sinne bietet diese legende dramatique ohnehin weder das eine noch das andere, sie besteht vielmehr aus lose gereihten Bildern. Die Figuren (und ihre Darsteller) fallen der Wucht der Bilder zum Opfer? In «La Damnation de Faust» finden sich keine Figuren im psychologischen Sinn. Das Stück war vom Komponisten nie für die Szene gedacht gewesen. Entscheidet man sich aber doch für eine Inszenierung, kommt es eher auf visuelle Fantasie als auf eine psychologische Personenführung an: Die «Damnation» ist eher «Symphonie mit Stimmen» als romantische Oper.

Und was für Stimmen bot man auf an der Opera Bastille: Jonas Kaufmann, der als Faust-Sänger Hawkings Rollstuhl schiebt, verfügt über eine schier unendlich abgestufte Modulationsfähigkeit, seine weichen hohen Cisse im Liebesduett, fast geflüstert, doch mit intensivem Kern, werden lange in Erinnerung bleiben. Bryn Terfel singt Mephisto mit dosiertem Volumen, sein Bariton strömt bestechend klar, jedes Wort des Textes ist verständlich, bis in die letzte Lautnuance durchdrungen, eine Vorstellung von fesselnder Präsenz. Sophie Koch, darauf deutet ihre Marguerite, drängt immer stärker ins Sopranfach: Die Höhe sitzt souverän, doch die Verblendung der Register lässt noch manchen Wunsch offen.

Philippe Jordan setzt bewusst nicht auf Berlioz-Bombast, bringt stattdessen den immensen Farbreichtum der Partitur zur Geltung, und das ungemein differenziert. Am Premierenabend wirkte das Orchester der Pariser Oper bei aller Klangschönheit noch etwas unsicher. Den Chor hätten wir uns runder, homogener gewünscht, dafür bot er eine seltene Bandbreite an Nuancen. Jubel also für Sänger und Dirigenten - und einen Buh-Orkan für das Regieteam.






 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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