Kronen Zeitung, 6.4.2014
von Martin Gasser
 
Schubert: Winterreise, Graz, Musikverein, 4. April 2014
 
Kunstvoller Aufschrei der Seele
 
Jonas Kaufmann im Musikverein Graz mit Franz Schuberts "Winterreise"-Zyklus
 
Jonas Kaufmann aus Deutschland ist der bedeutendste Operntenor der Gegenwart. Dass er auch als Liedsänger eine glänzende Figur macht, zeigte der Bühnenprofi nun erneut in Graz. Mit dem sensiblen Klavierbegleiter Helmut Deutsch interpretierte Kaufmann im Stefaniensaal Franz Schuberts „Winterreise" als kunstvoll gestalteten Aufschrei gegen das Unglück.

Ein bedeutender Opernsänger muss nicht automatisch ein guter Liedinterpret sein. Am Kunstlied sind viele gescheitert, Jonas Kaufmann, der begnadete Wagner- und Verdi-Sänger hat jedoch auch dieses heikle Repertoire sehr gut im Griff.

Mit großem Ton nähert er sich Schuberts Zyklus, man stellt sich bei ihm den Wanderer weniger als „armen, blassen Mann" vor, eher als einen Panther, so wie Rilke ihn in seinem Gedicht beschrieben hat: Ein mild' gewordenes, waidwundes Geschöpf, das in seiner Verzweiflung mitunter wild aufheult Es geht unter die Haut, wie sich bei Kaufmann Resignation und Aufbegehren aneinander reiben, wie er von subtilen, hauchzarten Details zur herrischen Attacke wechselt. Die „Winterreise" ist bei Kaufmann ein kunstvoll gestalteter, expressiver Aufschrei gegen das Unglück, den der Sänger ohne viel Manierismen, aber mit vielen Farben, weit gespannter Dynamik, nuancierter Textauslegung und bronzenem Prachttenor betörend Klang werden lässt. Die Phrase „ich will den Boden küssen" klingt bei ihm feurig, der „Lindenbaum" und der Mittelteil von „Rückblick" gerät wundervoll schlicht, volkstonhaft — ein rührender Nachhall eines einst voll im Leben stehenden Protagonisten. In „Auf dem Flusse" verleiht Kaufmann seiner Stimme einen Anflug von Irrsinn, lässt im „Frühlingstraum" unendliche Traurigkeit schwer auf den Wanderer lasten.

Aber es gibt auch ein Aber. Im letzten Drittel, dort, wo sich ein menschlicher Abgrund in der Größe des Grand Canyon auftut, lässt die Intensität nach. Vielleicht deshalb, weil der so versierte und sensible Klavierbegleiter Helmut Deutsch Kaufmann auf Händen trägt, ihn aber nicht zu einer riskanteren Darstellung provoziert. Vielleicht auch, weil man „Im Dorfe" recht schnell, „Täuschung" dagegen recht langsam nimmt und die kühnen Kontraste einebnet. Die innere Geschlossenheit, das ungeheure existenzielle Erzittern, das sich in den letzten acht Nummern breit macht, dies bleibt Kaufmann letztlich schuldig. Er ist ein großer Liedsänger, aber — noch! — keiner der Größten.





Foto: Musikverein/Probst







 
 
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