Der Neue Merker, 11/2013
Oswald Panagl
 
Puccini, La fanciulla del West, Wiener Staatsoper, 11. Oktober 2013
 
Musterinszenierung eines Meisterwerks
 
Zwar pfeifen es mittlerweile schon alle Spatzen aus Wien vom Dach und selbst bei den Eulen in Athen hat es sich bereits herumgesprochen: dennoch müssen ein paar Sätze zur Regie am Beginn meiner Rezension der dritten Vorstellung in dieser Produktion stehen. Dem Meister der Szene (im umfassenden Sinn) Marco Arturo Marelli ist mit dieser Produktion ein ganz großer Wurf gelungen, und die Wiener Staatsoper hat damit einen Erfolg bei Kritik und Publikum errungen, wie er einhelliger kaum denkbar ist. In Interviews, aber auch bei der Matinee hat der Künstler überzeugend dargelegt, dass sein Weg des Gelingens keine breite Straße, sondern ein mühsamer, von Stolpersteinen übersäter Pfad war, bei dessen Bewältigung es Vorurteile, Hemmschwellen und andere Widerstände zu überwinden galt.

Nochmals — diese Oper nötigte bislang eher Respekt ab als dass sie Begeisterung ausgelöst hätte. Dass Puccini selbst das Werk als seine gelungenste Partitur bezeichnet und eine Autorität wie Heinrich Mann darin unverhoffte Tiefen eines vorwiegend als Melodiker (ein)geschätzten Komponisten freigelegt hat, konnte daran wenig ändern. In der Tat, man glaubt passagenweise, besonders im ersten Akt, Klänge eines Leoš Janáček zu vernehmen, der ja bekanntlich von Puccini eine hohe Meinung hatte. Und gerade die aktuelle szenische Deutung, die romantische Stereotypen durcn eine gnadenlose moderne Arbeitswelt ersetzt, erinnert bisweilen an das sibiriscne Straflager von „Aus einem Totenhaus". Der notorische goldene Westen ist auf eine materielle Lesart reduziert, indem man im Goetheschen Sinn „am Golde hängt und zum Golde dränge". Das vermeintliche Paradies verkommt zur trügerischen Scheinwelt, und an der zerbrochenen Illusion leiden all jene Desperados, Outlaws und Raufbolde, die sich zu einer Zwangsgemeinschaft zusammen gefunden haben. Aus der Suche ist Sucht erwachsen — zum Spiel, zum Alkohol, zu billigem Vergnügen. In der kargen Freizeit eskalieren Gewalt, Egoismus und Feindseligkeit. Aber es kommt auch zu berührenden Momenten der Nostalgie, der Empathie, der spontanen Zuwendung, wenn man einem heimwehkranken Kumpel gemeinsam die Rückreise finanziert. Mit Dostojewskij/ Janáček ließe sich sagen: „In jeder Kreatur ein Funke Gottes." Wenn der Gesang von Jake Wallace aus dem Lautsprecher ertönt und als Folge einer technischen Störung kurz unterbrochen wird, so ist das mehr als ein billiger Regiegag oder ein wohlfeiles Zugeständnis an die Gegenwart: Man mag dabei vielmehr an den ,radio-aktiven' Trost deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg durch populäre Lieder denken: „Heimat, deine Sterne", „Bei der Kaserne, vor dem großen Tor"...

Man hat der Dramaturgie der Oper oft eine zu langsame Entwicklung der Ereignisse aus der schieren Milieuschilderung vorgeworfen. Doch auch in diesem Punkt trügt der Schein. Mit Jack Rance löst sich zunächst ein scharf gezeichnetes Individuum aus der heterogenen Masse: Er ist mehr als ein Stiefbruder von Puccinis Scarpia oder Giordanos Gerard: als unverwechselbare Persönlichkeit mit sinisterem Hintergrund ist er dem Spiel, dem Alkohol, vor allem aber der unzähmbaren Leidenschaft für Minnie, die Schankwirtin verfallen. Und gerade als er von ihr singt, betritt sie endlich die Bühne. (Auch über Elektra in der Oper von Strauss-Hofmannsthal erfahren wir zunächst mittelbar aus dem Munde der Mägde, ehe sie selbst erscneint!) Diese Minnie ist weder femme fatale noch fragile oder gar sentimentale, sie sprengt vielmehr das Korsett der gängigen Rollentypologie: bibel- und charakterfest (mitunter wohl auch trinkfest), das Herz am rechten Fleck, gleichsam mit ‚spitzer Engelszunge' redend ist sie zugleich Hoffnungsanker der Gestrandeten und Projektionsfläcne männlicher Sehnsüchte im Spannungsbezirk von Pietas, Amor, Eros und Sexus. Und gerade als sie Jack Rance ihre anspruchsvolle Einstellung zum Liebesleben kundgibt, tritt jener Dick Johnson alias Ramerrez auf, der nach spontaner Zuneigung, herber Enttäuschung und entschiedener Zuwendung zu ihrem Lebensmenschen wird: ein idealer Vertreter der literarischen Spezies des edlen Räubers, mehr poetische Erfindung als Abbild der Realität. Und das Ende? Die Lösung Marellis, das ,hohe Paar' nach dem happy ending ("O terra addio!") in einem Ballon entschweben zu lassen, ist schlechthin genial und enthebt ihn (und uns) aller Fragen trivialer Glaubwürdigkeit. Denn wie heißt es so schön bei Johann Nestroy: „In Luftschlössern hat sogar die Hausmeisterwonnung eine himmlische Aussicht."

Die sängerische Besetzung ist so hinreißend und noch dazu vielfach unisono gerühmt worden, dass ich mich, um nicht bekannte Aussagen zu verdoppeln, mit wenigen Worten begnügen darf. Nina Stemme begeistert mit Durchschlagskraft, Höhensicherheit und unverwechselbarem Timbre als Titelheldin, der sie zudem auch das zunächst herbe Charisma einer großen Liebenden verleiht. Jonas Kaufmann ist nach Aussehen und Auftreten ein Latin Lover, wie er im Buche stent. Seiner Stimme liegt die Rolle des Dick Johnson zudem wie angegossen: metallische Attacke, glänzende Spitzentöne und zwischendurch ein richtig eingesetztes gehauchtes Piano. Tomasz Konieczny verkörpert den Sheriff als eine letztendlich tragische Figur, die sich nach dem Scheitern aller Illusionen am Ende zum Suizid rüstet. Sein Gesangsstil, der in anderen Rollen (Wotan, Mandryka) gewöhnungsbedürftig erscheinen mag, kommt diesem rauen, verwitterten Burschen geradezu ideal entgegen. Über die weiteren Sänger müsste man individuelle Loblieder anstimmen, was das Platzangebot nicht zulässt: Wenn ich also nur Norbert Ernst (Nick), Boaz Daniel (Sonora), Michael Roider (Trin), Hans Peter Kammerer (Sid), Peter Jelosits (Harry), Clemens Unterreiner (Happy) und Jongmin Park (Billy Jackrabbit) namentlich hervorhebe, mögen es mir die anderen verzeinen. Paolo Rumetz (Ashby, der Chef einer Transportfirma) und Alessio Arduini (Räuber José Castro) vertreten authentisch die Personen außerhalb der Goldgräber-Crew. Juliette Mars verkörpert liebenswürdig die Squaw Wowkle.

Dagmar Niefind hat den Gestalten passende, quasi emblematische Kostüme entworfen. Franz Welser-Möst ist diese Partitur — wie auch im Interview begründet — ein hörbares Anliegen, das er den glänzend aufspielenden Wiener Philharmonikern überzeugend vermittelt. Der Chor und das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper runden einen geglückten Abend ab, dessen Wirkung auf das Publikum sich in lang anhaltendem Jubel entlud.














 
 
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