Klassikinfo, 10.10.2013
Von Derek Weber
 
Puccini, La fanciulla del West, Wiener Staatsoper, 8. Oktober 2013
 
Bibelstunden für Goldgräber
 
 
(Wien, 8. Oktober 2013) Inzwischen darf man es offen sagen: Puccinis "La fanciulla del West" ist eine seiner besten Opern, nicht nur wegen Dick Johnsons "Ch´ella mi creda", der einzigen "wirklichen" Arie der Oper. Ein noch immer nicht mehrheits­fähiges Werturteil, wie man weiß. Dabei ist die Oper äußerst innovativ, zeigt einen neuen puccinianischen Verimo, bei dem sich der Komponist des "Trittico" und der "Turandot" bereits ankündigt und der melodischen und harmonischen Raffinesse neue bittersüße Nuancen hinzufügt werden. Nichtsdestotrotz: Beim Publikum war die Oper meist unten durch, nicht t so bei jenen, die 1910 die Premiere an der Met miterlebten.

Was ist das Besondere an diesem "Mädchen aus dem Goldenen Westen", wie man die Oper hierzulande nennt? Mit Sicherheit nicht das exotische Milieu und das Spiel mit einigen musikalischen Amerikanismen und vielen Exotismen, die schon längst zu Puccinis Werkzeug gehörten. Puccini war auf der Suche nach seiner Oper der Zukunft. Romantisch-realistisch sollte sie sein, aber – wie am Ende der "Fanciulla" - angereichert mit einem neuen, fast utopisch zu nennenden Ton, der die Brutalität dieses hoffnungslos aggressiven Goldgräber-Arbeitslagers aufhebt. In keiner seiner Opern zeigt Puccini schonungsloser die emotionalen Abgründe der Menschen, in keiner fordert er von den drei Antagonisten – der Wirtin Minnie, dem Banditen Ramerrez und dem Sheriff Jack Rance - einen wahrhaft totalen Einsatz ihrer Stimmen. Und doch ist hier Hoffnung mitkomponiert in der Emphase, mit der die Begegnung (oder genauer: Wiederbegegnung) zwischen Ramerrez/Dick Johnson und Minnie geschildert wird. Das sind Momente und Melodien, die einem nicht aus den Kopf gehen. Da kommt nicht nur das musikalische Prinzip Hoffnung zu Wort, es regiert eine Dramaturgie, weit weg von den zwangsneurotischen und vom Schicksal gebeutelten Figuren des vor-rosenkavalieresken Richard Strauss oder von Riccardo Zadonais "Francesca da Rimini". Und doch spürt man auch hier: Der blutige Weltkrieg ist schon nahe. Es herrscht eine aggressiven Grundierung des Milieus vor, die in jedem Augenblick zur katastrophalen Entladung führen kann.

Eingebettet darin ist – genau besehen – ein großes Rätsel: Wer ist diese durch und durch gute, ausgleichende und kulturbringende Wirtin Minnie, die in dem staubigen kalifornischen Goldgräber-Kaff Bibel-Lesestunden abhält, für Männer nicht zu "haben" ist und von sich behauptet, noch nie einen Mann geküsst zu haben? Und sich dennoch Hals über Kopf in den Banditen Ramerrez verliebt, wie er sich in sie. Liebe erhält einen sozialen Sinn: Durch sie, so die Geschichte, kann sogar ein Räuber zum besseren Menschen werden.

Minnie, eine heilige Johanna der Goldgruben? Lügt sie oder meint sie mit nie geküsst nie "richtig" (innig, ganz bei der Sache seiend) geküsst? Immerhin ist sie ja eine "Fanciulla", ein junges Mädchen, keine ausgewachsene Opernsängerin. Wo kommt sie her und wie kommt sie – als einzige Frau - in die gottverlassene Goldgräberstadt? War sie immer schon eine Missionarin? Ist sie eine seßhaft gewordene Wanderpredigerin? Das Libretto sagt darüber nichts. Auch in der Vorlage zur Oper, David Belascos "The Girl of the Golden West", ist wenig über Minnies Vorleben zu finden. Ist sie gar ein ehemaliges Barmädchen? Das wäre – sozial- und sujethistorisch gesehen – naheliegend. Aber wie geht das mit Nicht-Küssen zusammen? Und was bedeutet das alles für Inhalt und Regie der Oper?

Marco Arturo Marelli, der Regisseur der neuen Wiener Inszenierung, geht der Verführung aus dem Weg, sich eine eigene Vorgeschichte zu konstruieren. Er sieht in Minnie eine Art naiver Ersatzmutter für die Goldgräber, ohne nach dem Woher dieser Attitüde zu fragen. In Belascos Roman wird die fast schicksalhafte Begegnung zwischen Minnie und Ramerrez ausgemalt, die (vielleicht) die Kussscheu des Mädchens erklären könnte: Liebe auf den wahrhaft ersten Blick, Ergebnis einer kurzen Begegnung auf der Straße. Kein anderer hat da Platz, auch keine stramme Liaison. Minnie hat sich in ein Bild verliebt, das sie sich von jemandem gemacht hat, der damals noch kein Straßenräuber war.

In Puccinis Oper ist die Begegnung auf der Straße nicht mehr als eine kurze Reminiszenz. Aber so versteht man den Impetus seiner "Fanciulla"-Musik besser: Von dem Augenblick an, in dem Minnie und Ramerrez sich zufällig wiederbegegnen, herrscht ein anderer Ton vor, wie von einem anderen Licht bestrahlt, bis zu jenem "Minnie, della mia vita unico fiore" in der Arie "Ch´ella mi creda" kurz vor dem Ende der Oper.

Nicht nur braucht man für "La fanciulla del West" ein großes Ensemble von exzellenten Nebenrollensängern (über die die Wiener Staatsoper durchaus – manchmal sogar in beinahe luxuriöser Form - verfügt). Notwendig sind drei Protagonisten, die emotional in den Figuren aufgehen, keinem Risiko aus dem Weg gehen, vom scheuen Piano in einem Augenblick ins wildeste Fortissimo wechseln, ohne dabei die Kontrolle über die Stimme zu verlieren. Nur wenige schaffen das - vokal und darstellerisch. Das war bei der letzten Inszenierung von 1976 erst bei der Wiederaufnahme von 1988 mit dem Ausnahme-Tenor Placido Domingo als Dick Johnson und einer Minnie von großem Format, Mara Zampieri, der Fall. Die Inszenierung selbst war – wie die meisten älteren Produktionen - ziemlich inferior, hölzern und westernmäßig im Sinne von John-Wayne.

Dass Jonas Kaufmanns baritonal eingefärbter Tenor ideal zur Rolle passen würde, konnte man sich ausmalen. Auf der Bühne wuchs er auch darstellerisch über sich hinaus, was man sicherlich auch dem Regisseur Marco Arturo Marelli mit anrechnen darf, der die rechte Balance zwischen Führen und Agieren-Lassen fand. Der Dick Johnson könnte nach diesem Rollendebüt "seine" (Kaufmanns) Rolle werden. Nina Stemme hat sich die ihre, ebenso schwierige, schon erobert, ist im poetischen Piano ebenso präsent wie bei den mutigen Ausbrüchen. Und Tomasz Konieczny erwies sich als intelligent spielender Sheriff Rance, der seinem Bariton eine Fülle von Farben abgewann.

Die Verlegung der Handlung in ein heutiges Milieu von Containern, die Marelli als Regisseur, Bühnenbildner und Lightdesigner in einer Person eingefallen ist, erwies sich als Glücksfall. Ein zeitloses Lager ist dieses Camp, voll mit menschlichen Sehnsüchten nach Liebe, nach Geborgenheit, nach "Heimat", das nicht zufällig Assoziationen an das Sibirien der russischen Zarenzeit weckt. Erinnert "La fianciulla del West" nicht insgesamt an Janáčeks Männeroper "Aus einem Totenhaus", aus dem es kein Entrinnen gibt, außer für den Adler, der am Ende von den Gefangenen freigelassen wird? Vielleicht hat das Marelli zu der Idee verleitet, Minnie und Dick Johnson mit einem Ballon (und nicht zu Pferd) in die Freiheit aufbrechen zu lassen. Solch eine Metapher kann sich nur einer erlauben, der dem Westernklischee Ade gesagt hat.

Und last, but not least, ist auch die Leistung von Chor und Staatsopernorchester unter Franz Welser-Möst zu würdigen. Man merkte, dass Puccinis Oper dem Dirigenten – er hat sie zuerst in Zürich als Einspringer geleitet – ans Herz gewachsen ist. Akkurat und mit großer Emotion – die bei ihm nicht immer die Regel ist – dirigierte er mit großer Umsicht in den dramatischen Wogen und vermied es, die pentatonischen Lyrismen in einem missverstanden-süffigen Melos zu ertränken.

So und nur so lässt sich nachvollziehen, warum Puccini gerade diese Oper für seine beste hielt und warum Arturo Toscanini, der Uraufführungs-Dirigent, von ihr als einer "symphonischen Oper" schwärmen konnte.

















 
 
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