Berliner Zeitung, 17. Mai 2010
Peter Uehling
Brahms: Rinaldo-Kantate, Konzert in der Philharmonie Berlin
Was Gretchens Spinnrad antreibt
 
Claudio Abbado dirigierte die Berliner Philharmoniker
 
Wenn Claudio Abbado nicht gerade eine Mahler-Sinfonie dirigiert, sind seine Programme von forciertem Eigensinn. Immer stärker zieht er sich auf kleinteilige Stückfolgen zurück, bevorzugt aufs Begleiten von Sängern. So auch am Freitag, als er die Berliner Philharmoniker dirigierte und wenig von jenem besonderen Gestaltungsvermögen zeigte, das seine letzten Jahre als Chef dieses Orchester zu einer großen Ära machte. Er kann mit den Philharmonikern noch immer souverän umgehen, und auch die Musiker vermögen seine Gestik noch immer in die spezifische Abbado-Musik umzusetzen. In dieser Musik sind die Klänge nie etwas im Moment geformtes und erscheinendes, sondern sie gehen aus dem Fluss hervor. Der Abbado-Klang ist fluktuierend, als wären die Dimensionen umgestürzt, die Phrase ein Akkord und der Klang eine Melodie.

Aber so viel Virtuosität, verschenkt an Brahms' "Rinaldo"? Brahms schrieb diese Kantate als 30-jähriger nach einem Text von Goethe als kalkuliertes Erfolgsstück. Es ist ein breit gepinseltes Tongemälde über eine zugespitzte Situation: Die Kreuzritter mahnen ihren Helden Rinaldo zum Aufbruch von Armidas Zauberinsel, der aber hängt seinen Liebeserlebnissen nach. Einerseits wird gedrängelt, andererseits malt Brahms ausgiebig Rinaldos Erinnerungen, in einem ariosen Stil, der Schumanns Oratorien manches verdankt, aber zugleich viel von dessen Ausdrucksbeweglichkeit eingebüßt hat.

Martialische Moral

Schön gelingt Abbado die Einleitung, das orchestrale Bild des weiten Meeres, das zu überqueren Rinaldo zögert. Brahms schildert dieses Offene, indem er den Eintritt des Grundtons hinauszögert. Dennoch entsteht bald der Eindruck des Massiven, sowohl durch die mit ausführlichen Wiederholungen gemauerte Form, aber auch durch das Aufgebot an Kräften. Neben die große Orchesterbesetzung treten gleich zwei Männerchöre, der Berliner Rundfunkchor und der Rundfunkchor des Bayerischen Rundfunks, hervorragende Ensembles, die sich jedoch in dichter Vierstimmigkeit zu unangenehm strahligen Klängen addieren. Und völlig gegen Abbados Künstlertum ist, was solche Klänge an kultureller Arroganz assoziieren: Männerchor mahnt mit deutscher Musik und Worten unseres Goethe zur Pflicht des Ritters. Würde Rinaldo solch martialischer Moral doch etwas entgegensetzen! Aber der Tenor Jonas Kaufmann hat sich die Partie nicht unbedingt zu eigen gemacht, er hängt am Klavierauszug, präsentiert seine bis ins höchste Register beeindruckend männliche Stimme; wenig vermittelt er von der Melancholie des Abschieds.

Davor gab es Stücke: drei Schubert-Lieder und das Lied der Waldtaube aus Schönbergs "Gurre-Liedern". Man kann dazwischen geheimnisvolle Verbindungen konstruieren: Goethe-Texte bei Brahms und Schubert, belebte, verzauberte Natur überall, sämtliche Werke stammen von jungen Komponisten. Doch das bleibt vage und entfaltet sich schon aufgrund der Kürze der Stücke im großen Raum nicht recht. Dass Abbado die bedeutendsten Werke des Abends, Schuberts Lieder, dann auch noch in der klebrigen Instrumentation Max Regers präsentiert, nimmt ihnen einiges von ihrer Kraft: Was etwa verstand der Fließbandkomponist Reger schon von der Mechanik, die Gretchens Spinnrad antreibt? Bei ihm gleitet es als unscharfe Erregung in den zweiten Geigen dahin statt als Kontrapunkt zum Gesang zu summen und zu brummen. Berlioz' Instrumentation des "Erlkönigs" überträgt Schuberts Klaviersatz schon eigenständiger in eine orchestrale Textur - dennoch berühren die Übertreibungen der illustrativen Details eigenartig theatralisch und fast möchte man meinen, dass sich die Mezzosopranistin Christianne Stotijn davon zu einer gewissen gestalterischen Zurückhaltung gedrängt fühlte, die im tristanisch wispernden "Nacht und Träume" allerdings die berückendste Wirkung tat.






 
 
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