Die Welt,  26. Juli 2010
Manuel Brug
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
Neuenfels' tierischer "Lohengrin" begeistert Bayreuth
 
Mit der ersten Neuinszenierung ihrer Intendanz gelingt Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier ein fulminanter Start.
Richard Wagner hat in seinem wahnwitzigen Opernwerk diverse Tiere vorgesehen, Schwäne in „Lohengrin“ und „Parsifal“, Kröte und Riesenschlange, Wotans Raben und Frickas Widder, Brünnildes Ross Grane, den „wonnigen Laller“ Waldvogel und schließlich den Lindwurm Fafner im „Ring“. Aber Ratten, und noch dazu im „Lohengrin“? Das ist neu.

Doch Ratte ist nicht Ratte. Die aufrecht trippelnden Nager, die sich Hans Neuenfels und sein fantasiereicher Ausstatter Reinhard von der Thannen für den neuen Bayreuther „Lohengrin“ ausgedacht haben, sind ausgesprochene Theaterratten, mehr noch - Opernratten, ja, Festspielratten: elegant, possierlich, vieldeutig. Nie ekelhaft und auch nie albern.

Diese durchnummerierten Ratten de Luxe haben schlotternde Körperkonturen aus Neopren, in Schwarz für die Männchen, weiß für die Weibchen und Rosa für die glücklicherweise überschaubare Kinderbrut. Sie watscheln auf nackten Krallenfüßen, schwenken einen riesigen Schwanz sowie übergroße Krallenhände. Mit letzteren können sie grotesk winken, wenn sie „Heil“ schreien. Sie können Jubelhymnen und Kriegsparolen intonieren, Formation tanzen und hinter Gitterkäfigen marschieren. Sie morden mit Schwertern und werden vom Schutzpersonal mit unbekannten Substanzen geimpft.

Vor allem aber singen diese kunstvoll künstlichen Bühnenwesen ganz hervorragend, voluminös und doch schlank im lichten Gesamtklang: Denn in den Ratten steckt der Bayreuther Festspielchor. Und der wurde auch diesen Sommer von Eberhard Friedrich sozusagen tierisch gut einstudiert.
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Zudem wandeln sich diese Ratten stetig. Sie legen auf Befehl ihre äußere Haut ab, die an Haken gen Schnürboden segelt, und offenbaren darunter schick geschnittene gelbe Anzüge. Zusammen mit dem Kostümschwarz der nicht tierischen Protagonisten und dem Rot eines mobilen Thronsessels sind das die deutschen Flaggenfarben. Die Ratten kommen im zweiten Akt im Frack und Smoking, nur mit tierischen Pfoten. Die bestens behütete Damenwelt kleidet sich zur Hochzeit in eiscremefarbene Couture und wedelt ergriffen mit dem Schwanz. Im dritten Akt schließlich scheinen alle fast zur Gänze vermenschlicht in strengschwarzen Uniformen mit weißem Schwanenwappen. Nicht zufällig sehen sie jetzt, im neuen Reiche Lohengrin – der Name ist bekannt, deswegen ist es auch schon wieder zu Ende –, ein wenig aus wie italienische Faschisten. Als Viecher waren sie irgendwie sympathischer. Warum überhaupt Ratten? Ein hintergründiges Bestiarium gehört immer schon zur Symbolwelt von Regisseur Hand Neuenfels.

Der vorletzte Bayreuther „Lohengrin“ von Filmregisseur Werner Herzog genügte sich in verzopft-vernebelten Theaterromantik mit naiven Caspar-David-Friedrich-Tableaux. Die letzte Hügel-Interpretation von Keith Warner bebilderte mehr, als dass sie erklärte. Von den jüngeren Deutungen des säbelrasselnden Stücks blieb Peter Konwitschny in Hamburg in Erinnerung. Er verlegte den „Lohengrin“ in ein wilhelminisches Klassenzimmer. Anselm Weber ließ ihn in Frankfurt im Kino spielen, und Stefan Herheim verkleinerte ihn an der Berliner Staatsoper als historistisches Marionettenkabarett.

Wagner selbst nannte den „Lohengrin“ sein traurigstes Stück, weil hier Märchenfiguren scheitern, die jeweils nur einen Zweck haben. Die Guten sind gut, die Bösen böse, die Herrschenden herrschen, das Volk singt dazu. Und Frauen wie Männer kommen hier noch weniger zusammen als sonst im Wagner-Universum.

Ein Laboratorium also diesmal, von Übermächten gesteuert, eine Versuchsanordnung, deren Sinn sich nicht ergründet. Klar ist nur: Ein Mann will hier rein. Und während der hochgerühmte Dirigent Andris Nelsons, Debütant in Bayreuth, noch die Streichersäulen des Vorspiels seltsam diffus wie ein Herz-EKG oszillieren lässt und dabei mit der Musik kaum vor der Stelle zu kommen scheint, stemmt sich der Typ im Hemd und offener Krawatte gegen die schmerzlich weiße Wand ganz vorn. Er schiebt sie zurück und entschwindet dann in der ihn gleichsam schluckenden Tür. Um später als Lohengrin alias Jonas Kaufmann zurückzukommen. Einfach so, weil nach ihm gerufen wurde.

Von den Ratten, aber auch von der Restmenschheit, die hier nach einem Gottesurteil schreit, weil Brabant ohne Herrscher ist und die Herzogstocher Elsa angeblich Bruder Gottfried hat verschwinden lassen. Behaupten Ortrud, ein böses Hexenweib, und ihr aufgehetzter Geliebter Telramund. König Heinrich soll es richten. Das Lohengrin-Experiment kann beginnen.

Der König ist der Rattenherrscher, menschlich, Georg Zeppenfeld verleiht ihm mit flexiblem Bassbariton Gerührtheit, auch Ängstlichkeit. Er ist ein verzagter Souverän, der irrt und stürzt, aufgefangen von seinem ebenfalls wohltönend zarten Heerrufer (Samuel Youn), einer lächerlichen Gestalt, der die Haare zu Berge stehen und die überlangen Frackschöße hinterherschleifen. Metallisch abwaschbar schimmert der Boden, aseptisch kühl sind die Neonlampenbewehrten Seitenwände mit den Gittertüren und Grifflöchern. Schmerzhaft hell bleibt das Licht. Als Restnatur fungiert Heinrichs Gerichtseiche: eine kümmerlich vertrocknete Topfpflanze mit nur noch drei Blättchen.

Esla, die passive Schmerzensfrau

Dieser ganz ohne Verklärungsglanz und Übergröße auskommende Lohengrin, dem Jonas Kaufmann zudem jeden Tenorstrahl nimmt, der weit hinten im Hals singt, sich seine Piani abpresst, um die Musik wie um emotionales Manna ringt, er will nur eines: Elsa helfen, ihr nah sein, die sich im Mantel in den Stuhl krümmt, wie der Heilige Sebastian von Pfeilen durchbohrt. Sie ist eine passive Schmerzensfrau, die blind folgt, nichts versteht, alles falsch macht, wirklich an ein „Glück, das ohne Reu’“ glaubt.

Beide Bayreuth-Debütanten, Kaufmann und Annette Dasch, singen merkwürdig verklemmt, unfrei, sie kommen auch stimmlich nicht zueinander.
Dasch gibt alles, was sie hat, das ist aufrecht und ehrlich – aber ein Quentchen zu wenig. Wenn die Stimme an Höhen- und Volumengrenzen stößt, ist kaum ein Wort zu verstehen.

Nihilistische Entertainerin

Während die Guten fortwährend um Harmonie und Einsein ringen, auch um einen Glauben, den das Laborpersonal in Gestalt eines Kreuzes nicht zulassen will, sind sich die Bösen in ihrer Mission nahe. Die schrille, keifende Ortrud der Evelyn Herlitzius und der solide, erst kurz vor der Premiere eingewechselte Telramund Hans-Joachim Ketelsen schmiegen sich aneinander, wobei Ortrud dominiert. In einer schwarzen Dracula-Kutsche, später in Elsa Turmaquarium einen Plastikschwan reitend, scheint sie mal weiblicher Nosferatu, mal böser Clown zu sein. Erst silbrig steril gekleidet, kontert sie vor dem Münster Elsas ausladendes Schwanenfedernbrautkleid mit dem gleichen Modell in Schwarz. Eine nihilistische Entertainerin.

Elsa bleibt die Unperson. Anrührend wird sie erst, als sie Lohengrin verloren hat, als die Tragweite ihres Fragens bewusst wird. Dann muss sie sich die Gralserzählung in aller Deutlichkeit des Versäumten gefallen lassen. Neuenfels, spielerisch und didaktisch zugleich, inszeniert sie illusionslos einfach als heillose Predigt vor aufscheinendem Fragezeichen. Schließlich fällt Elsa, ganz nach Wagners Wille, „entseelt“ zu Boden, wie alle anderen auch; nur Lohengrin verharrt.

Und Bruder Gottfried, ein blutiges Baby, schlüpft aus einem Schwanenei. Dessen Brüter stand anfangs naturalistisch ausgestopft im schwarzglänzenden Todesnachen, von Ratten getragen. Im ersten Finale fuhr er als gerupfte Gralstaube herab. Im Brautgemach hob sich sein Sarg voll Federn aus dem Ehebett, schließlich schrumpfte er zum Signet.

Gottfried zerreißt nun die Nabelschnur. Neustart. Das Experiment fängt wieder an. So wie es in Bayreuth immer weitergeht. Mit diesem hinreißenden „Lohengrin“, der ersten Premiere der neuen Intendantinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier (die das Inszenierungsteam beim langen, temperamentgeladenen Buhregen wie Beifallsgewoge schirmten), kann es auftrumpfen.

Hans Neuenfels wird noch an einigen Details arbeiten müssen, an choreografischer Präzision vor allem. Auch Andris Nelsons wird seine unterkühlte orchestrale Interpretation noch ausfeilen können. Der magisch eingefrorenen Szene zwischen Elsa und Ortrud im zweiten Akt stand ein hurtig genommener Brautchor gegenüber. Passend zu den Bildern könnte man sich das noch skelettierter, analytischer denken, schwer freilich gerade unter den akustischen Bedingungen in Bayreuth.



 






 
 
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