Bayernkurier, 15. Januar 2011
M. Weiser
Beethoven: Fidelio, Bayerische Staatsoper, 21. Dezember 2010
Kletterpartie im Abgrund 
Verirrt im Labyrinth: Bieitos „Fidelio“ – Umjubelter Kaufmann
 
München – Florestan wird niemals frei: In seinem mit großer Spannung erwarteten „Fidelio“ wagt Regisseur Calixto Bieito eine psychologisierende Neudeutung von Beethovens einziger Oper. Für Begeisterung sorgt Jonas Kaufmann.

1814 schien wieder einmal alles möglich – sogar die Heilung der Welt. Napoleon hatte eben seinen ersten Abschied von der Weltgeschichte genommen. Europa durfte sich fürs erste befreit wähnen, inklusive der deutschen Lande, die ihres dazu beigetragen hatten, den Tyrannen niederzuwerfen. Und Beethoven träumte von der Liebe als ordnender und heilender Kraft nach Krieg und Willkür. Das klingt heutzutage zu schön, um wahr zu sein. Und so setzt Calixto Bieito, routinierter Verkäufer allgemeiner Verunsicherungen, die ganze idealistische „Florestan“-Geschichte auf neue Gleise: Der Kerker ist in uns, in unseren Obsessionen und Ängsten. Befreiungskriege? Hier geht es um gescheiterte Selbstbefreiung.

Starke Eindrücke hinterlässt das Bühnenbild von Rebecca Ringst. Sie verlegt den Kerker in ein bühnenfüllendes Gerüst, dessen Konturen mit Neonröhren nachgezogen sind. Dieses Gerüst lässt sich verschieben und umklappen. Mal erinnert es an den Plan einer Computerplatine, mal an Rubiks Zauberwürfel – nur, dass es in diesem Leucht-Parcours offenbar keinen Ausweg gibt. Mal hektisch, mal apathisch klettern die Insassen dieses seltsamen Kerkers auf und ab. Dieses Bild hätte man mühelos als inneren Kerker interpretiert, auch ohne Bieitos Textkrücken: Statt der im Libretto vorgesehenen Sprechstücke wird ein wenig penetrant Borges zitiert, der große Argentinier, der mit seiner unendlichen und allwissenden Monsterbibliothek ja schon den Bauplan für Ecos „Name der Rose“ lieferte.

Bei Bieito bleibt Florestan ein Gemütskranker, der sich nach seiner Befreiung in seinen Kerker zurückzieht. Auch der Minister sorgt nicht mehr für Rettung: Geschminkt wie Heath Ledger als „Joker“ in Batman, nimmt er die Befreiung der Gefangenen als sinistren Willkürakt. Doch Bieito wartet mit Balsam auf seelische Wunden auf: Vier Musiker, die in Käfigen vom Schnürboden herabschweben, spielen Beethovens wunderschönen, schwerelosen „Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“ aus dem späten Streichquartett op. 132. Ein gewagter, ein zauberischer Einfall.

Für musikalische Streicheleinheiten sorgten auch Chor und Sänger, allen voran Jonas Kaufmann als in aller Verletzlichkeit raumbeherrschender Florestan, Anja Kampe als Leonore und Wolfgang Koch als selbstzerstörerisch böser Pizarro. Buhs dagegen für Dirigent Daniele Gatti. Nur ab und zu fanden Graben und Bühne zu schmetternder Freiheitsmusik zusammen. Dass das Staatsorchester unter Gatti vor allem in den leisen Passagen zu einem schönen schwebenden Ton dunkler Samtigkeit fand, passte aber irgendwie auch zum düsteren Grundton dieses Psychodramas.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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