Die Schocksekunde ereignet sich gleich in Takt fünf und sechs
der Ouvertüre: Die Hörner patzen bei ihrem Soloeinsatz, die Terz- und
Quintharmonien erleiden spürbare Blessuren. Das kann passieren, und es wäre
im Hinblick auf den weiteren Verlauf dieses "Fidelio"-Abends gar nicht
weiter erwähnenswert, spielten da nicht die Musikerinnen und Musiker des
Lucerne Festival Orchestra und des Mahler Chamber Orchestra. Und stünde da
nicht einer am Pult, der in einem Porträt der Wochenzeitung Die Zeit soeben
erst mit einem "glücklichen Gärtner" verglichen wurde: Claudio Abbado.
Doch keine falschen Schlüsse: Der glückliche Gärtner hat nicht falsch gesät
oder gejätet. Vielleicht lieben ihn seine Pflanzen nur zu sehr. Und wollten
deshalb besonders schön blühen – ein klassischer Fall von Übermotiviertheit,
von Emotion, die kurzfristig gegen alle Professionalität obsiegt. Denn wenn
das Lucerne-Festival in diesem Jahr den "Eros" in all seinen Facetten in
seinen Mittelpunkt stellt, darf hier von einer besonderen "Liebesbeziehung"
berichtet werden. Sie handelt von einem der größten Dirigenten der Gegenwart
und seinen Musikern, und sie zeitigt einige der schönsten Erregungszustände,
die sich je im Konzertsaal unser bemächtigt haben. Und wenn es stimmt, was
Nike Wagner in ihrem brillanten Eröffnungsvortrag zum diesjährigen Festival
sagte, dass es Musik gibt, die "Erregung pur" sein könne, dann nimmt sich
der Rezensent die Freiheit, dies auch auf manche Interpreten zu übertragen.
Abbado und die Musiker seines 2003 gegründeten Orchesters "eines der
schönsten Festivals dieser Welt" (Nike Wagner über Luzern) rangieren da ganz
oben.
Was Musik alles an Erregungszuständen ungeachtet eines erotischen oder
suberotischen Kontexts bewirken kann, die Wissenschaften haben es empirisch
längst untersucht. "Da erfahren wir von ansteigenden Hauttemperaturen, einem
Chill, Frisson, einer Gänsehaut. Von erhöhter Atem- und Herzfrequenz, einer
Erweiterung der Arterien und der Skelettmuskulatur, von erhöhter
Ausschüttung von Hormonen und schließlich von einer stärkeren Durchblutung
der Eingeweidemuskulatur."
Was Nike Wagner über das "Eros-Center Musik" mit feiner Ironie referiert,
lässt sich in Teilen nur wenig später am eigenen Körper wahrnehmen. Es ist
ein Gänsehaut-"Fidelio", eine besonders innige Realisierung dieser
Beethoven’schen Utopie. Ob die halbszenische Variante, für die Regisseurin
Tatjana Gürbaca (mit behutsam modifizierten Zwischentexten) und
Bühnenbildner Stefan Heyne sowie Lichtdesigner Reinhard Traub verantwortlich
zeichnen, daran so großen Anteil hat, sei dahingestellt.
Der riesige Ballon über dem Podium im Konzertsaal des KKL, der Metapher für
Sonne, Mond, Erde und natürlich die Freiheit, um die es in diesem Stück
neben der Liebe so sehr geht, ist in gefährlicher Nähe zu Beliebigkeit und
Design. Ebenso wie die Hunderte von Grablichtern rund um das Orchester. Dass
die Sänger in der Hauptsache vor mit Stoffen drapierten Podien singen, dass
sie es aber vor allem hinter dem Orchester tun müssen, stört eher, als es
hilft. Theater ist das nicht, und eine bessere Klangqualität und vor allem
Balance bietet die klassische konzertante Aufführung.
Christoph Strehls (Jaquino) und Rachel Harnischs (Marzelline) Stimmern
hätten jedenfalls so besser sich entfalten und tragen können. Christof
Fischesser singt einen "vollmundigen" Rocco in der Tradition Gottlob Fricks,
und Falk Struckmanns Pizarro hat neben seiner hohen Durchschlagskraft auch
herrlich bedrohliche Züge. Nina Stemmes Luzern-Debüt fällt überwiegend
positiv aus, auch wenn die schwedische Sopranistin, eine der großen Isolden
unserer Zeit, im ersten Akt in der Mittellage weniger überzeugend klingt.
Jonas Kaufmanns Florestan wiederum wirkt fast schon unantastbar in seiner
stimmlichen Potenz, in der Kunst der Tonentwicklung und Phrasierung: Im
großen Duett "O, namenlose Freude" singen sich die beiden in einen
Erregungszustand, der auch beim Rezensenten zu erhöhter Hormonausschüttung
führt.
Gänsehaut gab es schon vorher. Etwa beim Gefangenenchor mit dem höchste
vokale Empfindsamkeit pflegenden Wiener Arnold-Schoenberg-Chor. Oder gleich
beim Quartett "Mir ist so wunderbar", dessen bukolische Stimmung Abbado
schon in der Orchestereinleitung in Richtung irdisches Elysium tendieren
lässt. Seine schnörkellose, transparente, hochemotionale, aber niemals
überforcierte Art des Musizierens ergreift ein aufs andere Mal.
Ganz selbstverständlich bringt er Erkenntnisse der Originalklangbewegung
ein: Da spielen die Streicher quasi ohne Vibrato, sind die Holzbläser
plastischer zu vernehmen als man es von vielen modernen Orchestern gewohnt
ist, da erklingt der Paukenwirbel, der Pizarros Auftrittsarie einleitet, wie
ein Donnergrollen aus weiter Ferne. Und doch ist dahinter nicht der Hauch
von missionarischem Eiferertum zu verspüren. Alles klingt so
selbstverständlich, so natürlich, so ideal, als hätte es nie eine andere
Möglichkeit des Interpretierens gegeben. Und vor all dem werden die
Hörnerkiekser zu Beginn ganz, ganz klein. Denn es ist so, wie es Nike Wagner
zuvor beschrieb: "Dass Musik das einzige Medium ist, das die elementare
Kraft des Eros unmittelbar ins Präsens holt." Dem Zuhörer bleibt somit nach
jedem solchen Erlebnis die Hoffnung aufs Futur.
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