Badische Zeitung, 14.8.2010
Alexander Dick
Beethoven: Fidelio, Luzern, 12. August 2010
Schönste Erregungszustände
 
Eros im Präsens: Claudio Abbado dirigiert Beethovens "Fidelio" beim Lucerne Festival .
 

Die Schocksekunde ereignet sich gleich in Takt fünf und sechs der Ouvertüre: Die Hörner patzen bei ihrem Soloeinsatz, die Terz- und Quintharmonien erleiden spürbare Blessuren. Das kann passieren, und es wäre im Hinblick auf den weiteren Verlauf dieses "Fidelio"-Abends gar nicht weiter erwähnenswert, spielten da nicht die Musikerinnen und Musiker des Lucerne Festival Orchestra und des Mahler Chamber Orchestra. Und stünde da nicht einer am Pult, der in einem Porträt der Wochenzeitung Die Zeit soeben erst mit einem "glücklichen Gärtner" verglichen wurde: Claudio Abbado.

Doch keine falschen Schlüsse: Der glückliche Gärtner hat nicht falsch gesät oder gejätet. Vielleicht lieben ihn seine Pflanzen nur zu sehr. Und wollten deshalb besonders schön blühen – ein klassischer Fall von Übermotiviertheit, von Emotion, die kurzfristig gegen alle Professionalität obsiegt. Denn wenn das Lucerne-Festival in diesem Jahr den "Eros" in all seinen Facetten in seinen Mittelpunkt stellt, darf hier von einer besonderen "Liebesbeziehung" berichtet werden. Sie handelt von einem der größten Dirigenten der Gegenwart und seinen Musikern, und sie zeitigt einige der schönsten Erregungszustände, die sich je im Konzertsaal unser bemächtigt haben. Und wenn es stimmt, was Nike Wagner in ihrem brillanten Eröffnungsvortrag zum diesjährigen Festival sagte, dass es Musik gibt, die "Erregung pur" sein könne, dann nimmt sich der Rezensent die Freiheit, dies auch auf manche Interpreten zu übertragen. Abbado und die Musiker seines 2003 gegründeten Orchesters "eines der schönsten Festivals dieser Welt" (Nike Wagner über Luzern) rangieren da ganz oben.

Was Musik alles an Erregungszuständen ungeachtet eines erotischen oder suberotischen Kontexts bewirken kann, die Wissenschaften haben es empirisch längst untersucht. "Da erfahren wir von ansteigenden Hauttemperaturen, einem Chill, Frisson, einer Gänsehaut. Von erhöhter Atem- und Herzfrequenz, einer Erweiterung der Arterien und der Skelettmuskulatur, von erhöhter Ausschüttung von Hormonen und schließlich von einer stärkeren Durchblutung der Eingeweidemuskulatur."

Was Nike Wagner über das "Eros-Center Musik" mit feiner Ironie referiert, lässt sich in Teilen nur wenig später am eigenen Körper wahrnehmen. Es ist ein Gänsehaut-"Fidelio", eine besonders innige Realisierung dieser Beethoven’schen Utopie. Ob die halbszenische Variante, für die Regisseurin Tatjana Gürbaca (mit behutsam modifizierten Zwischentexten) und Bühnenbildner Stefan Heyne sowie Lichtdesigner Reinhard Traub verantwortlich zeichnen, daran so großen Anteil hat, sei dahingestellt.

Der riesige Ballon über dem Podium im Konzertsaal des KKL, der Metapher für Sonne, Mond, Erde und natürlich die Freiheit, um die es in diesem Stück neben der Liebe so sehr geht, ist in gefährlicher Nähe zu Beliebigkeit und Design. Ebenso wie die Hunderte von Grablichtern rund um das Orchester. Dass die Sänger in der Hauptsache vor mit Stoffen drapierten Podien singen, dass sie es aber vor allem hinter dem Orchester tun müssen, stört eher, als es hilft. Theater ist das nicht, und eine bessere Klangqualität und vor allem Balance bietet die klassische konzertante Aufführung.

Christoph Strehls (Jaquino) und Rachel Harnischs (Marzelline) Stimmern hätten jedenfalls so besser sich entfalten und tragen können. Christof Fischesser singt einen "vollmundigen" Rocco in der Tradition Gottlob Fricks, und Falk Struckmanns Pizarro hat neben seiner hohen Durchschlagskraft auch herrlich bedrohliche Züge. Nina Stemmes Luzern-Debüt fällt überwiegend positiv aus, auch wenn die schwedische Sopranistin, eine der großen Isolden unserer Zeit, im ersten Akt in der Mittellage weniger überzeugend klingt. Jonas Kaufmanns Florestan wiederum wirkt fast schon unantastbar in seiner stimmlichen Potenz, in der Kunst der Tonentwicklung und Phrasierung: Im großen Duett "O, namenlose Freude" singen sich die beiden in einen Erregungszustand, der auch beim Rezensenten zu erhöhter Hormonausschüttung führt.

Gänsehaut gab es schon vorher. Etwa beim Gefangenenchor mit dem höchste vokale Empfindsamkeit pflegenden Wiener Arnold-Schoenberg-Chor. Oder gleich beim Quartett "Mir ist so wunderbar", dessen bukolische Stimmung Abbado schon in der Orchestereinleitung in Richtung irdisches Elysium tendieren lässt. Seine schnörkellose, transparente, hochemotionale, aber niemals überforcierte Art des Musizierens ergreift ein aufs andere Mal.

Ganz selbstverständlich bringt er Erkenntnisse der Originalklangbewegung ein: Da spielen die Streicher quasi ohne Vibrato, sind die Holzbläser plastischer zu vernehmen als man es von vielen modernen Orchestern gewohnt ist, da erklingt der Paukenwirbel, der Pizarros Auftrittsarie einleitet, wie ein Donnergrollen aus weiter Ferne. Und doch ist dahinter nicht der Hauch von missionarischem Eiferertum zu verspüren. Alles klingt so selbstverständlich, so natürlich, so ideal, als hätte es nie eine andere Möglichkeit des Interpretierens gegeben. Und vor all dem werden die Hörnerkiekser zu Beginn ganz, ganz klein. Denn es ist so, wie es Nike Wagner zuvor beschrieb: "Dass Musik das einzige Medium ist, das die elementare Kraft des Eros unmittelbar ins Präsens holt." Dem Zuhörer bleibt somit nach jedem solchen Erlebnis die Hoffnung aufs Futur.



 






 
 
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