Neue Zürcher Zeitung, 9. Dezember 2009
Peter Hagmann
Bizét, Carmen, Mailand, 7. Dezember 2009
Macht Carmen den Männern Angst?
 
Zwiespältige Saisoneröffnung der Mailänder Scala mit Bizets populärer Oper in der Inszenierung von Emma Dante
Wiewohl verhaltener als sonst, war die traditionelle Saisoneröffnung der Mailänder Scala zu Sant'Ambrogio wieder ein gesellschaftliches Grossereignis. In künstlerischer Hinsicht blieb der Abend in- dessen sehr durchzogen.
 
«Carmen», und dann noch am Namenstag des heiligen Ambrosius, des Mailänder Stadtpatrons, an dem die Scala ihre Saison eröffnet – das ist doch zu gewöhnlich. Fast so gewöhnlich wie «Aida». Es hat den Ruch der Arena von Verona, und dass man bei Stéphane Lissner, der seit fünf Jahren als Intendant und künstlerischer Direktor der Scala vorsteht, beides haben kann, ist eine herbe Enttäuschung. In den neunziger Jahren hat er das Pariser Châtelet mit einfallsreichen und mutigen Programmen belebt; seit er dem führenden Opernhaus Italiens verbunden ist, übt sich Lissner in main stream, networking und name dropping. Irgendwie traurig.

Sensationelles Début
Gegen das Stück von Georges Bizet ist natürlich nicht das Geringste einzuwenden, das Problem ist die Rezeption. Und in gewisser Weise lag die Wahl sogar auf der Hand, denn abgesehen von einem bedeutungslosen Zwischenspiel im Jahre 2004 war «Carmen» seit der aufregenden Produktion mit Claudio Abbado im Dezember 1984 und Januar 1985 vom Spielplan der Scala abwesend. Shirley Verrett und Placido Domingo gaben damals Carmen und Don José, später gingen diese Partien an Agnes Baltsa und José Carreras über, Ruggero Raimondi stand ihnen als Escamillo zur Seite. Und Abbado, der zum ersten Mal an der Scala die Fassung der Opéra comique mit den gesprochenen Dialogen verwendete, sorgte für ein Brio und eine Vitalität, die unvergessen sind.

Davon ist in dieser neuen Produktion nicht die Spur. Daniel Barenboim, der an der Staatsoper Unter den Linden zu Berlin das Sagen hat und gleichzeitig der Scala als Hauptdirigent verbunden ist – warum diese Kumulation? –, dirigierte «Carmen» so lauwarm, so uninspiriert, dass kaum musikalische Kontur entstehen konnte. Er stützt sich zwar – «Carmen» verfügt ja über eine ausgesprochen komplexe Quellenlage – auf die neue Kritische Ausgabe von Robert Didion, verzichtet also ebenfalls auf die von Ernest Guiraud nachkomponierten Rezitative, doch bleibt sein Zugang zur Partitur weitgehend an der Oberfläche.

Schon das Vorspiel kommt in einem lärmigen, von schallenden Becken übertönten Tutti daher. Das Orchester der Scala, an sich gut bei der Sache, klingt schwer und dick, der farbliche Reiz der Instrumentation ist da natürlich vollkommen dahin. Das Schicksalsmotiv wirkt beiläufig, weil die beiden Bassschläge keine Kraft entwickeln, während die letzten Takte mit ihrer lange hinausgezögerten Auflösung keine Spannung erhalten. Vor einem halben Jahr hat der Dirigent John Eliot Gardiner an der Opéra-Comique in Paris angedeutet, was an dieser Musik alles entdeckt werden kann. Barenboim, vielbeschäftigt und selbstgewiss, hat offenbar weder Zeit noch Interesse, sich mit solchen innovativen Ansätzen zu befassen.

Mehr Profil weist die Produktion im Vokalen auf. Mit Jonas Kaufmann, dessen baritonal gefärbter Tenor auch in dieser Partie glänzt, ist der Don José unserer Tage zur Stelle, mit Erwin Schrott ein etwas weich zeichnender Escamillo, mit Michèle Losier eine helle, aber körperreiche Frasquita. Für die Titelpartie dagegen wurde die 25-jährige Anita Rachvelishvili aus Georgien engagiert, die, obwohl noch in Ausbildung, schon gut im Geschäft ist. Eine grandiose Stimme. In einer kraftvollen, leicht kehligen Tiefe verankert, steigt sie über einen absolut makellosen Registerwechsel in eine Höhe von strahlendem Volumen. Dass sie szenisch noch unfrei wirkt und ihr die Unergründlichkeit der Titelpartie noch verschlossen bleibt, ist kein Wunder, aber das Potenzial macht Hoffnung.

Sizilianisches Kolorit
Bemerkenswert auch das Operndébut von Emma Dante. Die italienische Theatermacherin, die auch einen Teil ihrer Truppe eingebracht hat, verleiht der Produktion eine Körperlichkeit, die an La Fura dels Baus erinnert. Wild sind diese Frauen – nur zu begreiflich, dass es die Männer da mit der Angst zu tun bekommen. Stark ist auch das Kolorit, aber nicht das spanische, sondern das sizilianische – das auch die ordnungsstiftende Macht des Klerus einschliesst. In der Personenführung bleibt die Inszenierung jedoch konventionell; selbst die heftigste Aktion auf einem Nebenschauplatz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in diesem Fall dekorative Grundhaltung und Rampensingen dominieren. Wer diese Prämisse akzeptiert, kann einen von Richard Peduzzi mit weiten Räumen versehenen, von Dominique Bruguière phantasievoll ausgeleuchteten und von den ausdrucksmächtig sprechenden Kostümen der Regisseurin geprägten Abend erleben. Für das Publikum der Scala war das allerdings schon viel zu ungewöhnlich.
 






 
 
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