Die Welt, 9. Dezember 2009
Manuel Brug
Bizét, Carmen, Mailand, 7. Dezember 2009
Die ganze Mailänder Scala in einem Berliner Kinosaal
 
Barenboims Opernsaison-Eröffnung mit "Carmen"
 
Und abends in die Scala. Das war an diesem Berliner Montag einfach.
Natürlich möchte jeder einmal in Mailand dabei sein, wenn jeweils am 7. Dezember, dem Tag des Stadtheiligen St. Ambrosius, offiziell die Saison am nach wie vor berühmtesten Opernhaus der Welt eröffnet wird. Ist es mit der Kulturnation Italien im gegenwärtigen Politklima nicht mehr weit her, und wissen die verbliebenen Opernhäuser noch nicht einmal, wie sie ihre Januar-Premieren finanzieren sollen, für die Scala-Inaugurazione ist nichts zu teuer. Da wird auf der Bühne wie im Zuschauerraum geklotzt, da strahlen die hohen Cs mit den Juwelen um die Wette und sind der Orchesterrhythmen so straff wie die Schönheitschirurgennähte.

So jedenfalls die Mär. In Wirklichkeit ist selbst diese Premiere oft von lähmend italienischer Dekorationswut, garniert mit mittelprächtigen Sängern. In engen Scala-Foyers und klaustrophobischen Garderoben drängelt es rücksichtslos, schon der Anmarsch ist ein Drücken und Schieben, manchmal auch Hauen und Stechen durch Absperrungen und Pelzgegner-Demos. Selbst das festliche Dinner hinterher in prächtigen Palästen wird zu Geduldsprobe, bis einen weit nach Mitternacht ein lauwarmes Hauptgericht erreicht.

Dabei geht es viel bequemer. Zum Beispiel im beinfreien Polstergestühl eines nicht unästhetischen, wenngleich nüchternen Potsdamer-Platz-Kinos. Über die Namen der Leitrosse der feschen Carabinieri zu Pferd (van Gogh und Bellatrix) informierte uns Operachic, der eleganteste aller Opernblogs. Vorher waren wir gepflegt italienisch essen, denn die Live-Übertragung von Arte im Fernsehen und im per Satellit angeschlossenen Filmpalast geht konsumentenfreundlich leicht zeitversetzt um 20.45 Uhr über die Riesenleinwand. Es ist nicht so voll wie bei den stärker beworbenen Metropolitan-Opera-Übertragungen, doch sogar ein paar andere Kritiker haben den direkten Weg gefunden. Auch die Lieblingskollegin ist ostentativ in Bequemkleidung und silbernen Turnschuhen da. Vor ein paar Jahren in Mailand, bei einem gemeinsamen psychologischen Prä-Inaugurazione-Pumpskauf, waren es noch pinkfarbene Stilettos.

Wir erwarten nicht allzu viel bei dieser "Carmen"-Premiere. Daniel Barenboims Dirigieransatz ist bekannt, ebenso die Vokalqualifikation von Jonas Kaufmann als Don José und von Erwin Schrott als Macho-Matador Escamillo. Zu Ehren des Landsmannes ist sogar der Berliner Botschafter Uruguays im Kino. Der Name der eingesprungenen Carmen, eine Georgierin namens Anita Rachvelishvili, klingt wie ein Hustenbonbon, und bei der uns unbekannten "Avantgarderegisseurin" Emma Dante, lassen wir vorsichtig alle Hoffnung fahren.

Es kommt weit positiver. Aktwechsel und Pausen sind schon weggeschnitten, auch die sonst patente, diesmal madamig aufgetüttelte Arte-Moderatorin Annette Gerlach ist kurz und knapp. Sehr schön sind die Kameraperspektiven beim Zirkuskapellenradau der italienischen Nationalhymne im Weitwinkel aus dem Graben in die (Merkel- wie Fischer-lose, noch nicht Westerwelle-gefüllte) Staatsloge; ebenso gern schauen wir später vom Schnürboden auf das Chorgewusel oder von tief unten hoch zu Daniel Barenboims Bäuchlein, der eine Extrashow für das TV-Publikum fuchtelt. Und ansonsten viel gelassener, glanzpolierter dirigiert als bei seinem Berliner Bizet-Debüt vor einigen Jahren, wo die Staatskapelle als Luxus-Banda raffiniert blechlärmte.

Die Musik erklingt zwar weiter weg und leiser als in der Originalscala (da gibt es zudem keine regelmäßig wiederkehrenden Übertragungsaussetzer), aber wir sind dank des brillanten HD-Bildes und einer beweglichen Bildführung weit näher dran als sonst hinten seitlich auf den (akustisch hervorragenden) Scala-Presseplätzen. Emma Dante, die sicher bald in Berlin inszenieren wird, hat Richard Peduzzi seine üblichen Backsteinwände bauen lassen. Die stehen im für das TV-Bild kaum erfassbaren Dunkel und stören nicht. Den Chor hat sie ebenfalls nach hinten geschickt, um Platz zu machen für ihre Akteure, die wild tanzen, die Beine spreizen, als Pamperskinder herumspringen und im Finale Wachsgliedmaßen als Votivgaben für den glücklichen Kampfausgang recken.

Es ist eine kirchenkritische, sonst archetypisch traditionelle "Carmen" geworden, ohne Zeffirelli-Plunder. Groß und bewegend waren nur die Großaufnahmen, weniger von der vibratosatten, zur toten Mutter des Don José werdenden Micaela (Adriana Damato), aber vom ironisch düsteren Schrott, dem etwas überagierenden Kaufmann. Und auch den erdigen Mezzo der Anna-Magnani-ähnliche Rachvelishvili sollte man sich merken.

"Carmen" im Opernkino - kann man also wieder machen, mehr als eine Million hatte auch im Fernsehen zugeschaltet, wenngleich nichts über die Atmosphäre im Original-Scala-Saal geht.






 
 
  www.jkaufmann.info back top