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Badische Zeitung |
Heinz W. Koch |
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
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Eine Oper wird entkleidet
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Bizets "Carmen" mit Hartmann
und Welser-Möst in Zürich |
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Kein Platz. Kein Wachlokal. Keine Tabakfabrik.
Nur die Ahnung einer Spelunke, eines nächtlichen Schmugglerfelsens. Und –
natürlich: nichts von einer Arena. Erst also wieder, was die neue Zürcher
Festspiel-"Carmen" alles nicht ist. Kein Kostümfest. Kein
Ausstattungsschutt. Keine Sporthallenoper. Kein Massenspektakel. All das
nicht, was viele Kulturkonsumenten aller Aufklärung zum Trotz immer noch mit
Georges Bizets Genieblitz verbinden. Kurz, ihr Regisseur dient sich dem
spanischen Fremdenverkehrsverband nicht als Werbeassistent an.
Der Regisseur heißt Matthias Hartmann und ist im Hauptberuf Intendant des
Zürcher Schauspielhauses. In Jahresfrist wechselt er in gleicher Funktion
ans Wiener Burgtheater. Zum dritten Mal – nach Smetanas "Verkaufter Braut"
und d’Alberts "Tiefland" – stieg er vom Pfauen am Kunsthaus zum Opernhaus am
See herunter. Es wurde seine bisher konventionellste Operntat. Dennoch, mit
all den tausend "Carmen"-Klischees hatten er und seine Ausstatter (Bühne:
Volker Hintermeier; Kostüme: Su Bühler) wenig im Sinn. Wie vor einem halben
Jahrhundert der Szenenentrümpler Wieland Wagner halten sie es mit einer nach
vorn geneigten runden Scheibe. Der Sonnenschirm, das Werkstor, der
Kneipentisch, die Stühle: Das wenige, das zeichenhaft gebraucht wird und wie
die Kleidung von fern auf "Mittelmeer" zielt, platzieren die
Sängerdarsteller auf der Spielfläche. Armes Theater ist das. "Carmen" wird
quasi "entkleidet". Die Gestalten sind das Werk, nicht das Drumherum. Nichts
lenkt von ihnen ab. Ihre Charaktere, ihre Emotionen machen das Drama aus.
Und das heißt hier vor allem: das Drama des Sergeanten Don José. Er ist
mit Jonas Kaufmann nachgerade ideal besetzt: ein etwas linkischer junger
Musterschüler mit Brille, der in erotische Situationen gerät, denen er nicht
gewachsen ist und an denen er katastrophal scheitert. Es ist tatsächlich,
als erlebten wir bei Hartmann, mit Kaufmann diese Tragödie eines Naiven in
der falschen Umgebung zum ersten Mal, als sei alles Überlieferte Gehabe von
ihm abgekratzt.
Indessen, es gibt noch etwas anderes, von dem das Prinzip der leeren Bühne
partout nicht ablenken will: Das sind Hartmanns Schwächen – oder der
Umstand, dass im notorisch produktionsfreudigen Zürcher Haus die Zeit
diesmal doch nicht ganz gereicht hat? Mit den (wichtigen) Chören kann der
Schauspielmann auffallend wenig anfangen. Wenn das im Zuschauerraum
anzunehmende bunte Volkstreiben beäugt und kommentiert wird – dann machen
die Damen und Herren Choristen, was man da halt seit eh und je so macht. Und
manches Handlungsmotiv scheint Hartmann auch egal zu sein. Wie etwa kommt
Josés Jugendliebe Micaëla mitten in der Nacht ins brandgefährliche
Hochgebirge?
Die originale Dialogfassung gäbe darüber Auskunft (per Bergführer). Aber die
wurde in Zürich zugunsten der Rezitative von Bizets Freund Ernest Guiraud
(Kritische Neuausgabe: Michael Rot) verworfen. Sie wurden im
Uraufführungsjahr 1875 für Wien geschrieben (wozu sich der inzwischen
verstorbene Bizet allerdings auch schon bereit erklärt hatte), und sie
katapultieren die tragische Opéra comique flugs aufs Terrain der Grand
Opéra. Wohin sie nicht gehört und in Hartmanns schmuckloser Version im
Grunde schon gar nicht. Da stellt die Regie sich selber ein Beinchen. Oder
kapitulierte sie von vornherein vor den französischen Sprachkünsten der
internationalen Sängerschar (kein Franzose darunter)?
Wir sind bei Franz Welser-Möst, den es bekanntlich ebenfalls nach Wien, an
die Staatsoper zieht, und der letzten seiner 42 Einstudierungen in dreizehn
Chefjahren. Und eigentlich wurde nie so ganz klar, zu welcher "Carmen" seine
Auslegung tendiert – zur knapp-leichtfüßigen der Opéra comique oder zur
aufgeplusterten der Großen Oper. Hier gibt es beide Stilebenen im trauten
Nebeneinander – gut, seriös gearbeitet, mit feiner Holzbläser-Kolorierung,
aber auch im Graben war es, als sei nicht alles restlos ausformuliert.
Dann war freilich noch nicht von den kostbaren lyrischen Momenten die
Rede, die einem lange nicht aus dem Ohr gehen. Das Duett Josés und Micaëlas
endet zum Weinen schön. In der "Blumenarie" gelingt Welser-Möst mit Kaufmann
eine Piano-Reflexion, ein In-sich-hinein-Singen (mit einem phantastischen
Pianissimo-Schluss), wie man es nie gehört zu haben glaubt. Und Josés
letzter, ganz leiser und ganz langsamer, wahrlich inständiger Appell an
Carmen – da hält man den Atem an. Ungeheuer.
Diesem Jonas Kaufmann gelingen standfest-strahlende Spitzen. Vor allem
aber ist er ein wahres Wunder an tenoraler Sensibilität. Damit punktet er
sogar gegenüber dem gespannt erwarteten Carmen-Debüt der Vesselina Kasarova.
Natürlich ist das ein Carmen-Mezzo wie aus dem Bilderbuch, schlank,
gelenkig, füllig in Sopranhöhen wie in kehlig-bronzenen Alttiefen.
Gleichwohl, sie "macht" zu viel, "will" zu viel. Diese wohlertüftelten
Phrasierungs-Kabinettstückchen – sie verkommen zum allzu Künstlichen, zur
Manier, ja, sie nerven in ihrer absichtsvollen Absichtslosigkeit. Und: Es
ist immer wieder so, als müsse sie sich zum Asozialen in Carmen zwingen. Sie
hat in ihrem Blümchenkleid so gar nichts von Unterschicht an sich. Isabel
Reys Micaëla singt sich aus bedenklicher Belegtheit mehr und mehr frei, und
Michele Pertusi ist haargenau der (makellose) bassbaritonale Kraftlackel,
den der Männlichkeitsprotz Escamillo abgeben sollte. |
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