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Mittelland-Zeitung, 30. Juni 2008 |
Christian Berzins |
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
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Ein Häuflein Elend im Opernhimmel
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In Georges Bizets «Carmen»
stehen die Sänger im Mittelpunkt. Matthias Hartmanns Regie ist
unaufdringlich, Franz Welser-Mösts Dirigat überrascht. |
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Mit der Grösse der Erwartungen nehmen in
Opernkreisen vor einer Neuproduktion auch die Spekulationen zu, wie am Abend
musiziert und wie inszeniert wird. Kurz vor Beginn werden die Spekulationen
zu gefährlich verfestigten Meinungen: Leise werde diese «Carmen»,
lichtdurchflutet, dafür ohne folkloristische Züge. Und was geschah?
Kaum steht Franz Welser-Möst bei seiner letzten Premiere als Zürcher
Generalmusikdirektor vor seinem Or-chester, knallt er dem Publikum die
Ouvertüre um die Ohren. In der überschäumenden Heftigkeit des allseits
Bekannten erkennt man musikalische Form und interpretierende Gestalt:
Welser-Möst treibt die Streicher voran, stürzt sich kopfüber hinein in ein
Drama um Liebe und Tod › hier wird kein spanischer Folkloreabend gegeben, wo
es netten Erwartungen zu entsprechen gilt. Ruhe findet dieses Dirigat nicht
mal im Vorspiel zum 3. Akt, sondern erst dann, wenn es für die Helden keinen
Ausweg mehr gibt.
Das finale Duett wird dank Welser-Möst zu einem unvergleichlichen
Liebestod: Das bedrohlich langsame Tempo und die fiebrige Sehnsucht des
Klangs brennen wie heisser Sand unter nackten Füssen: Darauf tasten sich
Carmen (Vesselina Kasarova) und Don José (Jonas Kaufmann) in den Tod.
Kaufmann beginnt die Szene so grossartig leer im Ausdruck, als hätte er
bereits seinen letzten Tropfen Blut verloren. Diese «Leere» zeigt sich in
einem unheimlich fein tragenden, nie brechenden Piano: Erst in den letzten
Phrasen wird Kaufmann seine Stimme öffnen, seinen Liebesschmerz in die Welt
hinaus singen. Selbst hier ist keine seiner musikalischen Gesten plump,
nicht einem der vielen Tenorklischees wird er entsprechen. Genauso
unheimlich ausdrucksstark wie das Finale ist die «Blumenarie» gesungen:
lange mit den leisesten, zartesten und verletzlichsten Tönen › vielleicht
mit etwas Einsatz der Kopfstimme, aber dennoch meist voll im Klang.
Die Rollendebütantin Vesselina Kasarova durchdringt die Partie genauso wie
der Tenor › nicht mit naiv brachialer Stimm-, sondern mit kluger
Gestaltungskraft. Kasarovas Farbspektrum scheint unbegrenzt. Sie spielt mit
Mikrobetonungen und kleinsten Vokalwendungen, sodass zum Schluss die
berühmte Rolle fast unbemerkt ihre Riesenhaftigkeit erreicht hat.
Wenn beim ersten Auftritt Escamillos sein «Amour» von Frasquita und Mercedes
quasi als Echo beantwortet wird, tönt das Wort bei Sen Guo und Judith Schmid
ganz nett. Wenn dann aber auch noch Kasarova ihr «Amour» innerhalb einer
Sekunde vom engelhaften Jubel in klagend dunkelste Seelenregionen fallen
lässt, schauderst einem vor so viel Gestaltungskunst.
Unheimlich auch, wie Kasarova im 4. Akt mit völliger Belanglosigkeit im
Tonfall Liebesworte zu Escamillo singt. Sie zeigen den Charakter dieser Frau
besser als jede Regieidee. Eine solch desillusionierte, fast zynische Carmen
hat man selten gesehen: Männer können ihr durchaus Nutzen bringen, aber die
Sache mit der Liebe scheint für sie eine alte Leier. Bei Bedarf legt sie die
passende Platte auf.
Bei Matthias Hartmann, Zürichs Schauspielhauschef, fokussiert sich das
Geschehen naturgemäss auf Carmen und José. Doch erst im letzten Akt greifen
seine Ideen richtig. Ausser einem melancholischen Baum und dem skelettierten
Schädel eines Stiers steht nichts auf der hellen, sandigen Weltscheibe. Hier
leuchtet es aus den Seelenabgründen der beiden Protagonisten ein letztes Mal
hell auf.
Selten sah unsereins einen so verzweifelten José; selten auch eine
Carmen, die genau merkt, dass sie zu weit gegangen ist. Fast zufällig rammt
José ihr das Messer in den Bauch. Bald liegen keine Opernhelden auf dem
Boden, sondern zwei Häuflein Elend.
Mit dem Stierkämpfer Escamillo (Michele Pertusi, dem man nicht abnimmt, dass
er einen Stier töten kann) und Micaëla (Isabel Rey), deren Stimme zur
Grellheit neigt), ja auch mit den Schmugglern und dem «Volk» weiss Hartmann
weniger anzufangen › routiniert werden sie über die Bühne geschoben und
dabei werden Klischees nicht ausgespart. Und es werden auch Requisiten
rumgeschleppt, die man kaum bräuchte. Wenn im 1. Akt ein schlafender Hund
die Bühne ziert, hat das Bild erst etwas Bedrohliches. Als er aber mit
seinen Schwanz zu wedeln beginnt, gleitet die Szene auf eine Spassebene ab,
die ihr schlecht bekommt.
Solcherlei Details waren beim grossen Schlussjubel allerdings längst
vergessen. Die vorgemachten Meinungen waren, wenn nicht ganz widerlegt, so
doch mit spannenden Abweichungen ausgedeutet worden.
Eine solch desillusionierte, fast zynische Carmen hat man selten gesehen. |
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