Der Landbote, 30. Juni 2008
Herbert Büttiker
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
Carmen ist in der Fanzone angekommen
Im Opernhaus wurden Vesselina Kasarova, die Carmen, und noch mehr Jonas Kaufmann, der Don José, stürmisch gefeiert – und auch die Fanzone nahm Anteil: Tausende verfolgten die Premiere auf dem Sechseläutenplatz. 
Im Opernhaus wurden Vesselina Kasarova, die Carmen, und noch mehr Jonas Kaufmann, der Don José, stürmisch gefeiert – und auch die Fanzone nahm Anteil: Tausende verfolgten die Premiere auf dem Sechseläutenplatz.

Als im Opernhaus Pause war, hatte die zeitverschobene Übertragung der «Carmen»-Premiere in die Fussball-Fanzone eben begonnen, und wer sich den kurzen Spaziergang erlaubte, hörte von weitem satten Klang, erhaschte von der Seite gerade den Auftritt des Kinderchors, und erlebte eine Aufführung in anderen Dimensionen, wenn er in die Runde blickte. Die riesige Tribüne und der bestuhlte Platz vor der Leinwand waren bis auf den letzten Platz besetzt, viele schauten stehend. 5000 Besucher waren es, nach offizieller Schätzung. Vor dem inneren Auge schrumpfte das Opernhaus, aber hier zeigte sich auch: der Winzling ist ein David.

Nun, gespielt wurde ja Bizets Oper, und diese ist die Verführung schlechthin und populär wie kaum eine. Die neue Inszenierung von Matthias Hartmann auf der abstrakten Scheibenbühne von Volker Hintermeier und mit Su Bühlers nicht eben folkloristischen Kostümen ist allerdings nicht gerade das, was man als Kino-Carmen bezeichnen würde. «Alles ist Spiel, alles entsteht durch uns», lautet seine Devise, und so ist die Wachtablösung im ersten Akt eben «nur» der Auftritt des Kinderchors auf der grossen Scheibe, und imaginär bleibt der Aufmarsch der Quadrille vor der Arena im vierten Akt, denn die Volksmenge macht «nur» Mauerschau. Die Chorszene davor mit allem bunten Treiben und Orangen- und Programmverkäufern ist überhaupt gestrichen: Offensichtlich stellt das Werk hier eine Aufgabe, die nicht gelöst werden sollte.

Schmiss und Feinheit

Andererseits hat die Inszenierung gerade in dieser Reduktion auch ihre besten Momente, sie lebt hier ganz aus der musikalischen Energie und der Bewegung der Menge. Die Chöre des Opernhauses lassen sich nicht zweimal bitten, und Franz Welser-Möst ist mit dem Orchester vom ersten Takt der Oper an auf einem Kurs, der die temperamentvolle Rhythmik trocken akzentuiert, und doch opulenten Klang entfaltet. Schmiss und lyrische Feinheit, klangschöne solistische Bläser und das saftige Tutti der Streicher stehen in stimmigem Verhältnis. Unebenheiten gibt es jedoch auch, und die Lautstärke lässt manchmal vermuten, dass er in Gedanken schon in einem grösseren Haus dirigiert. Aber an seiner letzten Premiere als Generalmusikdirektor in Zürich schöpft Welser-Möst noch einmal aus dem Vollen.

«Alles entsteht durch uns» – die Devise ist auch für Carmen, Don José und die weiteren eine Regieanweisung, die auf die genuinen Ressourcen der Sänger und Darsteller verweist. Unproblematisch ist sie nicht. Tatsächlich haben es die Protagonisten zum Teil eher schwer, ihren Typ aus dem Milieu heraus zu entwickeln. Unkompliziert gelingt es Michele Pertusi mit forschem Bariton, mit Torerolied und entsprechend gekleidet als Escamillo, etwas farbloser, musikalisch angestrenger Isabelle Rey als niedlicher Micaëla. Dagegen scheint Jonas Kaufmanns Don José, immerhin Korporal, zunächst in einem hollywoodschen Pubertätsstreifen zu agieren. Was als Mutterkomplex in dieser Figur zu deuten ist, brauchte die klischeehafte Übertreibung nicht. Das beweist Kaufmann selber, wenn er singt, und dabei die Partie nicht nur musikalisch und stimmlich mit viel Bravour beherrscht, sondern mit jeder Faser authentisch verkörpert. Mit der herausragenden Blumenarie im zweiten Akt, mit den Szenen im dritten wachsen Figur und musikalischer Ausdruck dann zusammen, und wenn er in der Finalszene die ganze Palette einer fragilen Persönlichkeit und heftiger Ausbrüche ausspielt, sind musikalische und darstellerische Glaubwürdigkeit eins.

Carmen auf dem Weg

In dieser Entschiedenheit gelingt das Vesselina Kasarovas Carmen an dieser Premiere (noch) nicht. Für sie ist der Abend das Rollendebüt, und darauf hat man gewartet: Der dunkel grundierte, aber bewegliche Mezzosopran, die attraktive Erscheinung, Temperament und Noblesse – alles prädestiniert sie zu dieser Partie und fast alles löst sie ein. Aber die Stimme ist nicht sehr homogen, das stört (etwa im Karten-Trio) manchmal den Fluss und verkompliziert auch melodisch Klares wie die Habanera. Doch die expressive Palette ist gross und der dramatische Zugriff stark. Ein Coup ist ihre Szene zu Beginn des zweiten Aktes mit Frasquita (Sen Guo) und Mercedes (Frasquita): Da vibriert die Bühne.

Oft ist da aber auch ein Zuviel an Nachdruck in Gestik und Mimik mit im Spiel, und die Regie tut wenig zur Situierung der Figur: Ein Tor wird hingestellt, es geht auf und, voilà, da steht das Urbild der erotisch selbstbewussten Frau – auf zur Party im leichten Kleid und auf spitzen Absätzen: So tanzt sie für Don José in Lillas Pastias Kneipe, so ist sie mit den Schmugglern im Gebirge unterwegs, so schreitet sie, nun schon merkwürdig underdressed, an der Seite des glamourösen Toreros zum Fest – und kommt nie wirklich ganz an in der Geschichte. Vielleicht ist es wirklich nur eine Frage des Kostüms, sicher aber hat Vesselina Kasarova mit Carmen noch einen spannenden Weg vor sich. In der Fanzone angekommen ist sie schon jetzt.
Foto: Susanne Schwiertz






 
 
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