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Berliner Zeitung, 23.06.2007 |
Klaus Georg Koch |
La Traviata, Paris, Palais Garnier, 16. Juni 2007
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Ticks aus der Partitur
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Christoph Marthaler
inszeniert, Sylvain Cambreling dirigiert Verdis "La Traviata" im Pariser
Palais Garnier |
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An der Pariser Opéra hatte man einen
Theaterskandal aufziehen sehen, Beschimpfungen des Regisseurs,
Verwünschungen des Intendanten, Geschrei, "auf den Scheiterhaufen mit
Mortier!". Man hat solche Premieren in der jetzt dreijährigen Amtszeit des
Intendanten Gerard Mortier schon erlebt. Aber das sind auch
Theaterphantasien. Der Traum, rauh und wüst geliebt zu werden von seinem
Publikum; Opernhäuser sind nicht der Hort der Rationalität. Jedenfalls blieb
es diesmal friedlich, auch nach dem traurigen Ende von Verdis "La Traviata".
Eine schöne Opernpremiere, Jubel für die Sänger. Selbst die Buhrufe für den
Regisseur Christoph Marthaler klangen ganz zufrieden.
Das ist dann doch wieder merkwürdig. Hat alles zu allem gefunden? Trifft
Marthaler jetzt den Ton des klassizistischen Paris? Marthaler hat dem
Bebilderungsbetrieb der Oper doch immer wieder seine subversiv sich
dahinschleppenden Inszenierungen entgegengehalten. Die bekannten Opernhelden
hat er durch schlichtere Figuren ersetzt, die so langsam sind in ihrer
Selbstvergegenwärtigungsarbeit, dass sie dem Publikum kaum noch etwas
vorspielen könnten.
Tatsächlich gibt es auch in der neuen "Traviata" die alten marthalerschen
Figuren mit den Ticks. Diese Figuren lassen die Köpfe hängen oder die
Schultern hängen, oder sie zucken mit den Armen oder mit den Beinen, oder
sie laufen die Wände rauf oder sie fallen um. In der "Traviata" sind es die
Mitglieder der Gesellschaft, die durch die Ticks ausgezeichnet sind. Das
allein wäre freilich nicht originell. Doch Christoph Marthaler und Sylvain
Cambreling, der Dirigent der Produktion, haben für die Ticks auch einen
Grund in der Partitur gefunden. Es sind die etwas scheppernden
Begleitfiguren mit ihrer lokomotivenhafen Dynamik, das Verdische hm-ta-ta,
die nun meist der Gesellschaft zugeordnet werden.
Das ist in der "Traviata" plausibel. Die Gesellschaft ist, bis auf eine
Ausnahme im letzten Akt, in der die Moral aus ihr schlägt wie ein Blitz aus
der Wolke, eine, die Feste feiert und tanzt bis in die Puppen. Ihr gegenüber
sind die Helden der Geschichte gesetzt mit ihren Geschichten, mit ihren
Passionen. So fällt die Titelheldin, die sterbenskranke Kurtisane Violetta
in augenscheinlich ehrliche Liebe zu dem jungen Landadligen Alfredo, die
beiden werden vom Vater Alfredos mit Liebesverbot belegt, und die Versöhnung
findet tragischerweise erst im Augenblick des Todes statt. Die musikalische
Welt dieser Helden aber ist die Melodie, jene der "Begleitung"
entgegengesetzte musikalische Sphäre, in der Erleben, Gefühl und
Leidenschaft ihren Ausdruck finden.
Hier stößt die Interpretation freilich an eine Grenze, an die Grenze des
Offensichtlichen. Musikalisch ist eine Analytik, die Nebenstimmen von
Hauptstimmen unterscheidet, bei Verdi nicht unbedingt ein Mittel, das
Offenbarungen erschlösse. Es bleibt zwar nicht bloß beim etwas kreidigen Ton
des Orchesters. Sylvain Cambreling hat seinen ganz besonderen Sinn für
Stimmen, für den formvollendeten Aufbau von Gesangsphrasen auch in dieser
Produktion walten lassen und damit den Sängern wie der Musik zu wirklich
schöner Entfaltung verholfen. Aber vielleicht sind die Phrasen bei Verdi
noch länger, ausschweifender, als Cambreling sie dachte. Oder anders gesagt:
Die Auffassung der Musik der "Traviata" als etwas, das aus Teilen entsteht,
ist zwar nützlich für die Proben, griffe in der Aufführung aber kurz. Es
entsteht ja in der "Traviata" nicht wirklich etwas aus den Teilen. Eher
ereignet sich etwas in unerklärlicher Natürlichkeit. Daher die Rührung.
Warum ist es nun aber ein schöner Opernabend geworden? Das Schöne
entsteht aus dem wie unentschiedenen Nebeneinander mehrerer Möglichkeiten.
Musikalisch gibt es nicht nur das schlüssige Zusammenfügen der Teile,
sondern auch das, was im Italienisch des Melodramma "abbandono" heißt, das
Sich-Verlieren des Sängers an den Augenblick, an die Leidenschaft, an den
Sog der Phrasen. Das zeigt der in seiner Jugend schon vollkommen großartige
Tenor Jonas Kaufmann, der bei allem Sinn für die musikalische Architektur
die Figur des Alfredo mit baritonaler Force und kreatürlicher Wucht in die
Welt treten lässt. Und dann Christine Schäfer in der Rolle der Violetta:
Wenn man heute überhaupt noch das Wort vom "Künstler" gebrauchen will, als
einem Sänger, der unzugängliche Dimensionen des Menschlichen auch für eine
Öffentlichkeit erschließt, dann im Fall Schäfers.
Anfang Mai wurde in dieser Zeitung beschrieben, wie sich in Anna Netrebkos
Manon Lescaut an der Staatsoper eine Stimme als Projektionsfläche für das
Publikum darbietet. Schäfer dagegen verbindet Erfahrung mit
Vergegenwärtigung. Sie bewahrt stets die Distanz dessen zur Rolle, der die
künstlerischen Mittel kontrolliert (welche Fülle an Mitteln!) - und gibt
sich der Rolle doch hin als an eine Existenzform, die das Alltags-Ich
übersteigt.
Christoph Marthaler zeigt Violetta von Anfang als krankes, hinfälliges
Wesen. Es ist also klar, dass im Vergehen der Zeit ein Problem liegt, oder
dass die Zeit drängt. Ob die Liebe zu Alfredo nun echt ist oder ein
Wunschtraum, das ist nicht zu unterscheiden. Das weiß vielleicht überhaupt
niemand. Sichtbar wird aber, dass die durch die Tuberkulose markierte Zeit
in der Liebe nun plötzlich aufgehoben ist. Marthaler hat die Ungewissheit
über die funktionale Wahrheit dieser Liebesgeschichte noch verstärkt durch
ein altbekanntes Theatermittel. Das Bühnenbild von Anna Viebrock zeigt
nämlich am Rande eines Festsaals wiederum eine Bühne. Fast scheint es, als
sei die Bühne die Welt der Liebe, während der übrige Raum dem Treiben der
Gesellschaft gehört. Die Inszenierung hält sich aber davon fern, hier eine
Theorie zu unterbreiten. Es kommt nur am Ende zu einem merkwürdigen Kreisen
der Welten. Violetta schickt sich an, auf einem Bett auf der Bühne zu
sterben, dann tritt Alfredo hinzu, dann sein Vater, es kommt zur Versöhnung,
und dann stirbt Violetta wirklich, aber vor der Bühne, in der "wirklichen"
herbstlich vermüllten Welt, während die Hinterbleibenden am Bühnenrand
erstarren, und eine Blume fallen lassen in dieses Grab, als das die die Welt
nun erscheint. |
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