Die Welt, 19. Juni 2007
Von Jörg Von Uthmann
La Traviata, Paris, Palais Garnier, 16. Juni 2007
Pariser Kurtisanen in der DDR
Christoph Marthaler verlegt "La Traviata" dorthin, wo wir sie nicht vermuteten - nach Chemnitz
Mit der Kameliendame, die auf dem Montmartre-Friedhof begraben liegt, hat die neue "Traviata" im Pariser Palais Garnier nicht viel zu tun. Sie singt italienisch, ist aber auch keine Italienerin, sondern treudeutsch. Sie stammt, um es genau zu sagen, aus der DDR. Anna Viebrock, die Bühnenbildnerin, entdeckte in Chemnitz das zum Abriss verurteilte Kulturhaus und kaufte die monströsen Neonlampen des Foyers. Sie sind Hauptrequisit auf einer kahlen Bühne. Den Hintergrund bildet ein bräunlicher Vorhang, der sich bisweilen öffnet: Im ersten Akt, während Violettas großem Monolog, erscheint Alfredo mit einer Harfenistin auf dieser Zweitbühne. Im zweiten Akt macht sich dort ein von Verdi nicht vorgesehener, laut hämmernder Mechaniker an einem Moped zu schaffen. Oder ist es ein Rasenmäher? Im Schlussbild steht hier Violettas Bett.
"Ein unschuldig schönes, nostalgisches Bühnenbild", werden wir von Frau Viebrock im Programmheft belehrt, "ist in diesem Werk fehl am Platz." Christoph Marthaler, der Regisseur, sekundiert ihr: Er habe einen Horror vor "Champagner-Realismus". In der Tat werden während des Trinklieds, das die Oper eröffnet, nur eine Handvoll Champagnergläser - aus Plexiglas - gezückt: Stattdessen halten die Chorsänger Garderobenmarken in die Höhe. Die Szene findet nämlich nicht in Violettas Salon statt, sondern in einer Theatergarderobe. Bei ihrer Freundin Flora ist kein einziger Spieltisch zu sehen: Die Dame scheint einen Schnellimbiss zu bewirtschaften. Zu Verdis erregten, beinahe hysterischen Rhythmen erscheinen die Gäste wie Zombies im Schneckentempo, die Herren überwiegend in Schwarz, die Damen in Abendkleidern aus sämtlichen Perioden des 20. Jahrhunderts. Später liefern sich Männlein und Weiblein einen Nahkampf der Geschlechter à la Pina Bausch, um danach wieder in oratorienhafte Starre zu verfallen.

Im Programm macht Frau Viebrock geltend, "La Traviata" sei bei der Uraufführung ein zeitgenössisches Stück gewesen. Folgt daraus, dass es auch für uns ein zeitgenössisches Stück sein muss? Nur wenn man das Publikum für zu dämlich hält, um ohne Nachhilfe zu begreifen, wie es in der Pariser Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts zuging. Marthaler, der sich kokett einen "Desorganisator" nennt, macht auch nicht wirklich den Versuch, der alten Geschichte eine kohärente neue Form zu geben. In einigen Szenen lässt er den Chor wie Marionetten zucken und zappeln. Die Botschaft ist klar: "Ich bin der Strippenzieher hier. Den ollen Dumas und seine Kameliendame könnt ihr vergessen."

Die Sänger halten sich unter den erschwerten Umständen bemerkenswert gut. Auch die beiden Hauptpartien sind mit Deutschen besetzt. Christine Schäfer, mit roter Perücke und einem Stich ins Nuttige, bewältigt die Koloraturen der "grande horizontale" ebenso sicher wie die expressiven Ausbrüche der liebenden Frau. Dennoch ist Violetta eigentlich nicht ihr Fach. Bei allem Respekt vor ihrer Vielseitigkeit fehlen ihrem Timbre die romanischen Farben, die die Rolle erfordert.

Auch der Alfredo von Jonas Kaufmann überrascht zunächst durch sein ungewöhnliches Timbre: Es ist beinahe baritonal, im Piano mit einem gaumigen Beigeschmack. Aber wie sich sehr rasch zeigt, ist er den Spitzentönen mühelos gewachsen: Die Cabaletta "O mio rimorso" im zweiten Akt beendet er mit dem - fakultativen - hohen C, auf das berühmte Kollegen vorsichtshalber verzichten. Mit seiner glänzenden Erscheinung und seiner Spielfreude hat er die schönsten Aussichten auf eine große Karriere. José van Dam ist Germont père. Natürlich ist sein Organ nicht mehr ganz so frisch wie 1961, als er in Paris debütierte. Aber die Autorität, die der alte Fahrensmann ausstrahlt, ist immer wieder bewundernswert.

Sylvain Cambreling ist nicht gerade das, was man sich unter einem geborenen Verdi-Dirigenten vorstellt. Aber er hat mit dem Orchester fleißig gearbeitet und leitet eine saubere, manchmal etwas schleppende Aufführung. Bei der Premiere musste er auch einige Buhs einstecken. Die Sänger wurden wild gefeiert. Als sich Marthaler und sein Team zeigten, wurden sie mit wütendem Gebrüll empfangen. Er quittierte die Proteste mit dem Lächeln eines Serienkillers, der, während sein letztes Opfer noch röchelt, schon an das nächste denkt.






 
 
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