Badische Zeitung vom 13. August 2007
Alexander Dick
Beethoven: 9. Sinfonie, Luzern, 10. August 2007
Wenn das Unmögliche wirklich klingt
LUCERNE FESTIVAL: Eröffnung mit Esterházy, Abbado, Beethoven
19. August 1998 ein denkwürdiges Datum. Die Berliner Philharmoniker spielen Beethovens Neunte Sinfonie zur Eröffnung des Konzertsaals im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Große Begeisterung. Übrigens auch über die wunderbare Akustik des Konzertsaals, deren Schöpfer, der amerikanische Starakustiker Russell Johnson, vor vier Tagen erst verstorben ist. 10. August 2007 wieder steht im KKL Beethovens Opus summum auf dem Programm zur Eröffnung des größten Schweizer Musikereignisses, das inzwischen von den Internationalen Musikfestwochen zum Lucerne Festival geworden ist. Und wieder führt jener Dirigent den Taktstock, dessen Verdienste für Luzern längst denen seines berühmten Vorgängers Arturo Toscanini gleichkommen: Claudio Abbado. Gemeinsam mit Festivalintendant Michael Haefliger hat Abbado vor fünf Jahren das sein Lucerne Festival Orchestra ins Leben gerufen, einen Klangkörper, der seither zum Maß aller sinfonischen Dinge geworden ist. Und richtig: War die Neunte vor neun Jahren ein wunderbares Ereignis, so lässt sich diese nun kaum noch in Worte fassen. Allenfalls in jene Péter Esterházys: "Was es aber sicher gibt: Das ist die Fiktion" . Sie klingt in uns nach.

Der ungarische Mathematiker und Schriftsteller ("Ich war keine Sekunde lang ein richtiger Mathematiker" ) hat diese These in seiner dem Konzert vorausgegangenen Eröffnungsrede aufgestellt, einem scharfsinnigen, zuweilen schlitzohrigen Aperçu zum diesjährigen Festivalthema "Herkunft" . Und was die Bundespräsidentin der Schweiz, Michele Calmy-Rey, zuvor mit "europäischer Poly- phonie" bezeichnete, klang bei Esterházy dann so: "Europa ist die Heimat des Vielen" . Auch jenes Unmöglichen, das, um den ungarischen Literaten vorsichtig zu relativieren, zumindest zeitweise "wirklich" sein kann.

Wie bei Beethoven. Und bei Abbado und seinen wunderbaren Musikern und Sängern. Es fällt ja nicht leicht, dieser Neunten und all den Unmöglichkeiten ihres Missbrauchs vom Song of Joy bis zum Handyklingelton über das Museale hinaus neue Reize abzugewinnen. Genau das aber ereignet sich bei diesem Eröffnungskonzert. Abbados Interpretation in memoriam des Schweizer Tenors Ernst Haefliger reiht sich ein in die ganz großen der Kleibers und Toscaninis, vor allem, weil sie auch deutliche Wege abseits der eingefahrenen Spuren teutonischen Ingrimms weist, mit dem zumal der letzte Satz dieses Werks nicht selten exekutiert wird. Vielleicht sorgt Abbados romanisches Sprachgefühl dafür, dass Schillers Götterfunken in einem wunderbar innigen Legato-Ton sprühen und nicht, wie so oft, abgehackt und zerstückelt werden. Der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra) agiert in diesem unpathetischen Sinne, die Solisten tun ihr Übriges dazu: Melanie Diener, Anna Larsson, Jonas Kaufmann und Reinhard Hagen machen begreifbar, welches Potenzial an lyrischem Gesangsfluss in diesem Schlusssatz der Sinfonie steckt.

Und das Orchester? Es zaubert. Ob bei den überirdisch schönen Holzbläserstellen im Adagio, ob bei der federnden Spiccato-Phrasierung der Streicher im Scherzo, ob beim fragenden Quint- und Quartspiel des unergründlich geheimnisvollen ersten Satzes. Die Weggefährten, die der Maestro um sich geschart hat darunter wieder eine ganze Reihe Freiburger Musikhochschulprofessoren suchen nach der Bestätigung der Esterházyschen These. Und finden sie. Nur das Unmögliche klingt wirklich. Enthusiastischer Beifall.






 
 
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