Der Tagesspiegel
Jörg Königsdorf
Mahler: "Das Lied von der Erde", Berlin, 12. Januar 2006
Echo des Weltuntergangs
Den Musikern des Berliner Sinfonie-Orchesters dürfte vor der Begegnung mit Lothar Zagrosek etwas mulmig zumute gewesen sein: nicht nur, weil der Stuttgarter Generalmusikdirektor ab nächster Saison ihr neuer Chefdirigent ist, sondern auch, weil der letzte gemeinsame Auftritt mit Zagrosek acht Jahre zurückliegt. Wer kann nach so langer Zeit schon abschätzen, ob sich ein Dirigent und ein fast komplett erneuertes Orchester überhaupt noch verstehen? Oder ob sich die Berufung Zagroseks, ähnlich wie diejenige des glücklosen Michael Schönwandt bald nach der Wende, nicht als existenzieller Fehlschlag erweisen würde?

Die Musiker können beruhigt sein: Das Publikum im Konzerthaus applaudierte frenetisch; und auch der künstlerische Ertrag stimmte. Zagroseks klarsichtiger, aber keineswegs unterkühlter Stil findet Resonanz: Man spürt geradezu ein Aufatmen im Orchester, dass nach dem Pultautokraten Eliahu Inbal hier künftig ein entspannterer Geist herrschen wird. Zwar hatte Inbal das etwas ramponierte und durch starke Personalfluktuation verunsicherte Orchester in den vergangenen Jahren in Facon gebracht, erhellende künstlerische Akzente konnte der ehemals gefeierte Mahler- und Bruckner-Interpret jedoch kaum mehr setzen. Das scheint jetzt anders zu werden: Auf Anhieb findet das BSO unter Zagrosek zu jenem gemeinsamen Atem, der jedes sinfonische Werk tragen muss, wird eben nicht nur präzise gespielt, sondern Musik gemacht.

Die Uraufführung des Stücks "Herbst Wanderer" des Japaners Toshio Hosogawa ist in diesem Zusammenhang freilich mehr als Atemübung zu verstehen: Das knapp halbstündige Opus für Klavier, Saxofon, Schlagzeug und Streicher (mit dem Trio Accanto) garniert seine organische Entwicklungskurve zwar mit allerhand Klangreizen von auratischen Streichernebeln bis zu fernöstlichen Gebetsglöcklein, bietet darüber hinaus jedoch wenig Erkenntniswert.

Zentraler Verständigungspunkt zwischen Dirigent und Orchester bleibt das große klassisch-romantische Repertoire. Mahlers "Lied von der Erde" stellt insofern eine gute Wahl für die Kontaktaufnahme dar, als das Stück den Musikern neben der geballten Strahlkraft des Tuttiklangs auch kammermusikalische Finesse abfordert. Und tatsächlich macht Zagrosek Kammermusik im orchestralen Rahmen, betont bei flüssigen Tempi den Liedcharakter der Nummern, setzt auf Natürlichkeit, statt jede fallende Notensequenz gleich zum Abschiedsseufzer zu zerdehnen. Das kommt nicht nur den beiden fabelhaften Solisten Petra Lang und Jonas Kaufmann entgegen, sondern sorgt auch für Balance zwischen der artifiziell entrückten Chinoiserie des Stücks und der spätromantischen Klanggewalt, die hier nur untergründig, wie das grollende Echo eines Weltuntergangs, spürbar bleibt. Und so freut sich nicht nur das BSO auf seinen neuen Chef (noch einmal heute, 20 Uhr).






 
 
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