Wiesbadener Tagblatt und Allgemeine Zeitung Mainz, 20. Juli 2004
Von Markus Häfner
Verdi: Requiem, Neubrandenburg, 17. Juli 2004
Neue Spannung und Dramatik
Verdis Requiem unter Enoch zu Guttenberg gegen jede Hörerwartung
Der einzige Moment, in dem Enoch zu Guttenberg am Dirigentenpult die Vortragsbezeichnungen der Partitur nicht peinlich genau beachtet, ist der erste Einsatz. Denn nicht im pianissimo, sondern gleich im vierfachen (!) Piano lässt er die Celli die erste absteigende melodische Linie spielen - also an der Grenze des Wahrnehmbaren. Man ahnt die Töne eher, als dass man sie hört. Der Chor findet sich flüsternd in diese minimalisierte Dynamik ein: "Requiem. Re-qui-em ae-ter-nam." Zäsur. Einen Moment lang scheint die Stille ewig andauern zu wollen. Und wenig später, das erste in die Grabesstimmung hineinschimmernde A-Dur: Wie hartnäckig hält zu Guttenberg es zurück, wie wirkungsvoll verzögert er den Einsatz der Violinen vor den Worten "et lux perpetua"! Egal, wie oft man Verdis Requiem zuvor gehört hat - diese Interpretation wirkt absichtlich verunsichernd, wirft jede Hörerwartung über den Haufen. Einerseits ist es dieses großzügige Auskosten von Pausen, Rubati und Ritardandi, das dem vielinterpretierten Notentext von Verdis "Requiem" in der jüngsten Aufführung beim Rheingau Musik Festival in der Basilika des Klosters Eberbach wieder völlig neue Spannung und Dramatik abgewinnt. Und zweitens ist es die ungemeine Konzentration, mit der alle Beteiligten - die Chorgemeinschaft Neubeuern, das Orchester der KlangVerwaltung München und das erstklassig besetzte Solistenquartett ihrem musikalischen Leiter folgen: Kleinste Nuancen wie Phrasierung, Vokalfärbung, Silbenabsprachen oder klar vernehmlich durch das Tutti hindurchscheinende Instrumentalsoli werden peinlich genau befolgt, sowie im Laufe des Abends beide dynamischen Extreme (also auch das Fortissimo) ausgereizt: Bisweilen in sehr scharfkantiger Gegenüberstellung. Kurzfristig hat die Norwegerin Turid Karlsen die schwere Sopranpartie übernommen: Mit strahlend klarer Höhe, großer Geschmeidigkeit im Erklimmen und Hinabgleiten von Spitzentönen, aber auch mit außergewöhnlich klangstarker Tiefe war sie ein brillanter Ersatz für die erkrankte Michaela Kaune. Auch im Bass eine eilige Umbesetzung: Für Alexander Vinogradov sprang der Wiesbadener-"Walküre-Wotan" Ralf Lukas ein: Lyrisch im "Lacrimosa", düster-dämonisch im "Confutatis". Ebenso vielseitig im Ausdruck auch der Mezzosopran von Margarete Joswig: Unnachgiebig wie Messerstiche die Töne des "Judex ergo cum sedebit", gleich danach jedoch mit der Stimme auch Resignation und Verzweiflung mimend. Lyrisch-bruchlos, mit wunderbar innigem Piano und strahlenden Spitzentönen der Tenor von Jonas Kaufmann. - Endloser Beifall nach dem (diesmal völlig partiturgemäß) in zerbrechliches "pppp" zurückgeführten Schlussakkord.






 
 
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