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Berliner Zeitung |
Klaus Georg Koch |
Die Entführung aus dem Serail, Salzburg 2003
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Alles aus Liebe
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Junge Leute greifen nach
Mozart: "Die Entführung" von Ivor Bolton und Stefan Herheim in Salzburg |
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Weiß
der Himmel, wie diese Produktion in diese Salzburger Festspiele
hineingeraten ist. Vorbereitet war niemand auf ein solches Ereignis, am
wenigsten das Salzburger Eröffnungspremierenpublikum, das, obwohl
gelegentlich durchaus zu einem Lachen verführt, am Ende brüsk den Saal
verließ. Das Stammpublikum mag es, wenn ihm sein Stück auf ungefähr immer
gleiche Weise die Hand auf den Arm legt und dabei lächelt. Es ändert sich so
viel in der Welt und droht sich zu ändern, da will man sich auf Mozart
verlassen. Am Sonntag aber hatte das Publikum ansehen müssen, wie ein
Regisseur und ein Dirigent gleichermaßen befeuert sich seines Stückes
bemächtigten. Es schien, als erdrücke der Regisseur dieses Stück mit seiner
Liebe. Er riss es in Teile in kannibalischer Liebe. Er setzte es wieder
zusammen, er gab sogar noch etwas hinzu, erzählte ihm etwas Neues,
Verrücktes über es selbst, alles aus Liebe. Und nicht weniger beherzt und
Besitz ergreifend griff der Dirigent in das Stück.
Wo üblicherweise die Alternative lautet: "Die Regie war schrecklich, aber
die Musik war schön", und "Regisseur und Dirigent verfolgten das gleiche
Ziel", ist allein schon die siegesgewisse Selbstständigkeit der Handelnden
bemerkenswert. Stefan Herheim, der Regisseur, wollte nicht selten durch
Bilder überwältigen, und seine Darsteller hatten viel zu tun. Aber nicht
weniger schien es, als hätte Ivor Bolton von den Sängern mit seinem Dirigat
Besitz ergriffen. Er überfuhr sie geradezu mit seiner Musik, jedenfalls in
den eröffnenden Passagen, als Jonas Kaufmann in der Rolle des Belmonte mit
seiner schweren, für einen Mozart-Tenor womöglich zu schweren Ansprache des
Tons kaum einen Weg fand, ins Tempo einzusteigen, und auch der vorzügliche,
so klangreiche wie bewegliche Peter Rose als Osmin wurde von der Dynamik des
Orchesters überrollt. Bolton ließ das Mozarteum-Orchester körnig
musizieren, in der Ouvertüre nur auf die Figuren und Bewegungsimpulse hin,
auf Kosten ein wenig der harmonietragenden Mittelstimmen, später wie einen
Körper vor allem aus Muskelfleisch und Sehnen, unter starker Betonung der
harmonischen Abstoßungspunkte. Es war dies ein lustvolles, die Glieder des
musikalischen Satzes sinnlich abbildendes Spiel, das man lieber eigentlich
nur mit den klanglich raffinierten Wiener Philharmonikern erlebt hätte,
gerade weil Bolton ein so fabelhafter Dirigent für die vorromantische Oper
ist und beispielhaft mit Orchestern zu arbeiten versteht.
Außerordentliche Momente musikalischer Kommunikation erzielte Bolton
namentlich mit den Sängerinnen der weiblichen Helden, Iride Martinez in der
Rolle der Konstanze, Diana Damrau in jener Blondchens. Man darf sich das
vorstellen wie in der klassischen Skulptur: Bolton entwickelte die
musikalischen Formteile weniger in ihrer sprachlichen Logik, nach der der
klassische Satz üblicherweise beschrieben wird, sondern nach körperhafter
Ausdehnung und Bewegungspotenzial. Die Musik entfaltete sich frei in der
Zeit, so wie die Skulptur im Raum, und der glückliche Eindruck entstand, die
Figuren existierten nicht mehr in der Gestalt ihrer Darstellerinnen, sondern
leibhaftig im Gesang.
Diese Art der Körpererfahrung, vielleicht müsste man auch sagen: Auflösung
und Neukonstitution von Körpern durch Erfahrung, lag nun wiederum ganz im
Sinn der Regie. Diese hatte sich vorgenommen, das Thema der Liebe und der
Treue aus der "Entführung" herauszuarbeiten, nicht durch Anschlag szenischer
Thesen, sondern durch Spiel. Zu diesem Zweck werden die Regeln ein wenig
verändert: Die Sprechrolle des Bassa Selim wurde aufgelöst, umgewandelt in
ein übergeordnetes Moment der Reflexion, das allen Teilnehmern gemeinsam
zugänglich ist. Der Text dieser Rolle wird verteilt, ein als Conférencier
auftretender Pedrillo kann ihn ebenso übernehmen wie Blonde in der zweiten
Szene des zweiten Akts, wo sie Konstanze ohnehin zur Rede stellt, der Rest
fällt dem Aufseher des Osmin zu, der als Antagonist der Liebenden noch
einmal aufgewertet wird. Ebenso wie Selim wird der bei Mozart
spielbestimmende Systemgegensatz zwischen christlichem Abendland und
moslemischer Türkei in etwas Allgemeineres verwandelt: Die Teilnehmer des
Spiels um die Liebe haben nun jederzeit die Möglichkeit, selbst das
Gegenteil ihrer jeweiligen Empfindungen, Hoffnungen, Überzeugungen zu
erfahren oder anzunehmen.
An der Chronologie von Mozarts "Entführung" wird damit nichts verändert. Im
Gegenteil, so hingebungsvoll wurde die Geschichte zwischen den musikalischen
Eckpunkten dieses Singspiels vermutlich selten ausgestaltet. Der
volkstümlichen Herkunft der Gattung entsprechend, gibt es viele Passagen,
die wirken wie Stegreifspiel, das sich von den Stichwörtern und Motiven des
Textes anregen lässt. Vieles, was dabei mutwillig naiv wirkt, steht im
Sprechtext der Partitur, auch dort ist der Weg von der "Leiter" zur
"Leiterin" nur kurz. Häufig wird hier in einer Art von Trivialitätsabwehr
gekürzt. Bei Herheim wird dagegen Triviales weiter trivialisiert - momentan
durchaus auch mit quälendem Effekt; zum Ernst der musikalischen Partien
entsteht oft aber eine ungeheure Spannung, die die Wirkung vieler Arien ganz
bestürzend steigert.
Letztlich gehört die Erfahrung des Trivialen zum Sinn dieses Spiels. Das
Thema der Liebesverhältnisse wird hier einmal entschlossen aus der Sicht
einer jüngeren Generation ergriffen, die Protagonisten der Oper, als Bräute
und Bräutigame aufgemacht, finden sich häufig in Gesellschaft Gleichaltriger
wieder, viele Szenen dieser "Entführung" sind als Stationen einer
Hochzeitsparty gestaltet. Angriff und Abwehr, Überlistung und Probe, die bei
Mozart vom Konflikt der Kulturen überformt erscheinen, sind bei Herheim nun
Grundhaltungen im Spiel der Geschlechter unter- und miteinander. Trivialität
und Idealität, Thrash und hoher Ton, Palast und weiße Ware auf dem
Hochzeitsgabentisch sind hier, neben den Illusionsgebilden der
hologrammartigen Bühnenbilder, nicht nur ästhetische Eigenschaften eines
Inszenierungsstils, sondern Merkmale der Lebenswelt dieser Generation, die
in ihr Selbstverständnis eingehen. Nicht zuletzt die musikalischen Formen
Mozarts, die Arien und Ensemblesätze erhalten eine Funktion im System der
Selbsterfahrung und der aufgedrängten Rollenbilder, in das die jungen
Liebenden eingebunden sind, zwischen Zwangsalbernheit und gelebtem Ernst,
zwischen dem Wunsch, etwas auszuprobieren und der gesellschaftlichen
Verpflichtung, in jeder Lage gut auszusehen. Als Opernproduktion ist das
komplex, gewiss, und vielen Zuschauern ist es zu kompliziert erschienen.
Vermutlich haben sich Regisseur und Dirigent, die Festspiele überhaupt um
den Premierenerfolg gebracht, weil sie die Inszenierung in einer um etliches
zu langen Studienform präsentierten, vor allem im dritten Akt schreiben
Dirigent und Regisseur ihre Methoden einfach fort. Wie sich da aber Leute
von der Oper haben ergreifen lassen und ihr eigenes Leben in sie
hineingetragen haben, das führt endlich einmal weit über die Weisheiten
geläufiger Operninszenierungen hinaus.
Die Entführung aus dem Serail // Musikalische Leitung: Ivor Bolton,
Inszenierung: Stefan Herheim, Bühne und Kostüme: Gottfried Pilz, Video:
fettFilm; Momme Hinrichs, Torge Moeller Darsteller: Iride Martinez
(Konstanze), Diana Damrau (Blonde), Jonas Kaufmann (Belmonte), Dietmar
Kerschbaum (Pedrillo), Peter Rose (Osmin), Erika Hathzi, Monika Schwabegger,
Erich Wessner, Josef Stangl (Solisten im Janitscharenchor);
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Leitung Rupert Huber) und
Mozarteum Orchester Salzburg. |
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