Der Landbote, 12 .11. 2002
HERBERT BÜTTIKER
Fierrabras, Zürich, November 2002
Häuslicher Krieg im Dreischuberthaus
Zu gut, um sie liegen zu lassen, zu sperrig, um ins Repertoire zu finden: Schuberts Opern bleiben eine Herausforderung. Dass und wie sehr sich die Mühe lohnt, zeigt die Neuinszenierung des «Fierrabras» im Opernhaus.
Die Geschichte handelt von König Karl, seinem Feldzug gegen die Mauren und von jungen Liebenden. Die maurische Fürstentochter Florinda liebt den christlichen Ritter Roland, ihr Bruder Fierrabras liebt, ohne Gegenliebe zu finden, König Karls Tochter Emma. Diese liebt Eginhart, einen Ritter von untergeordetem Rang, also unglücklich. Die Geschichte handelt von Kampf und Gefangenschaft, von Verrat und Bewährung, und sie endet gut: mit der Unterwerfung des maurischen Tyrannen, der Vereinigung der Liebenden und dem Glück der selbstlosen Freundschaft des zum Christentum übergelaufenen Fierrabras. Alles in allem: ein sperriges Libretto, das Josef Kupelwieser, Sekretär am Kärntnertortheater, für Schubert nach verschiedenen mittelalterlichen Quellen geschrieben hat.
Auf der Opernhausbühne sehen wir zunächst etwas ganz anderes: ein biedermeierliches Zimmer, das die ganze Bühne ausfüllt, aber eigentlich ganz klein ist. Denn alles – Flügel, die Kuckucksuhr und die Blumentöpfe – ist um mehr als das Doppelte vergrössert, und so sitzt Franz Schubert auf dem hohen Stuhl vor dem grossen Flügel: ganz klein. Er arbeitet an «Fierrabras» und an seinem Problem, das ihn klein macht: der Vater. Die Bühne, auf der Klaus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt die «heroisch-romantische», aber eigentlich auch biedere Geschichte bringen, ist diejenige von Schuberts Innenleben: seine Seele, seine Musik, sein Arbeitszimmer, und dieser Ansatz, der die Frage mitreflektiert, wie der Komponist zu diesem Werk kam, ist nun wirklich reizvoll. Denn interessiert uns Schubert als Gestalt nicht sehr viel mehr als das recht eindimensionale Personal seines Stücks? Dieses fügt sich in der neuen Perspektive nun auch zu einem facettenreichen Ganzen – ein glänzendes Regiekonzept, auch weil es die Musik von einem theatralischen Realismus befreit, dem sie wohl in dramatischen Arien und Ensembles, aber kaum in einer Dramaturgie über das Ganze gewachsen ist.

Der Sohn
Nun verteilt Schubert also seine Figuren, die da wie aus dem Nichts ins Zimmer treten, Holzschwerter, Pappkronen und alles, was es zum häuslichen Krieg sonst noch so braucht, und eben manchmal auch Noten, die sie zu singen haben. Es sind viele – Schubert, man weiss es, ist der Komponist der himmlischen Längen, und spätestens beim Schlussgesang (nach gut dreistündiger Aufführung) glaubt man, dass die Sänger auch wirklich aus den Noten singen, die sie in Händen halten. Aber der Abend ist eine Schubertiade voller Herrlichkeiten. Unter der Leitung von Franz Welser-Möst lässt das Orchester mit schöner Arbeit hören, dass die «Fierrabras»-Musik in die Zeit des reifen Schubert gehört (1823 war auch das Jahr der «Schönen Müllerin», die «Unvollendete» und die «Wanderer-Fantasie» waren schon da), und auf der Sängerbühne präsentiert sich ein grosser Reichtum von Lied-, Arien- und Ensembleformen. Neben der dramatischen Verve mit manchmal auch rauen Hörnern lebt der Abend weit gehend vom lyrischen Schwung, von der schwebend kreisenden Rhythmik, zu der Welser-Möst sein Ensemble animiert. Da entsteht oft ein Zauber, der an die wirkliche Anwesenheit des Komponisten auf der Bühne glauben lässt, in dessen Kopf sich alles bildet und der, obwohl er sich mit eher dürrer Stimme nur prosaisch äussert, das musikalische Zentrum der Aufführung ist.
Schubert – die gedrungene Gestalt, der rundliche Kopf und die Brille: Wolfgang Beuschel entspricht dem konventionellen Schubert-Bild perfekt – ist also reichlich beschäftigt, aber auch mit Angst und Hoffnung engagiert an diesem Abend. Dass die Figur in solcher ununterbrochener Bühnenpräsenz nicht aufdringlich und nicht langweilig wird, zeugt für schauspielerisches Können und eine Regie, die ihr Konzept offen umsetzt. Konsequent ist natürlich, dass die drei jungen Helden des Stücks alle ebenfalls Schubertsche Attribute und identische Kleider tragen. «Fierrabras» sozusagen als «Dreischuberthaus»: Schubert ist Eginhart, der Liebende und am Lieben von den Übermächten gehinderte, aber umso lyrischer singende (Müller-)Tenor, den Christoph Strehl schmiegsam und hell mit schwärmerischer Emphase so reich ausstattet, wie man es sich nur wünschen kann. Schubert ist auch Fierrabras, der Mann der Freundschaft, strahlend, optimistisch, wie ihn Jonas Kaufmanns kraftvoller Tenor verkörpert, und Schubert ist – oder eben wäre gern – auch Roland, der Mann der Tat, der robuste Bariton, wie ihn Michael Volle in aller Beweglichkeit kernig und stabil repräsentiert.

Die Geliebte
Herausgeputzt und häuslich, volksliedhaft und innig singend am Fusse seines mächtigen Flügels stellt sich Schubert hier die Frauenwelt im Allgemeinen vor (und die Frauen des Opernhauschores bleiben diesem Ideal auch nicht das Geringste schuldig), während sich der Traum von der Geliebten in zwei Gestalten konkretisiert: Emma, voller Gefühl und Ergebenheit – Joanne Kozlowa gibt ihr die Fülle eines schönen Timbres (die eine oder andere Spitze ausgenommen) und Musikalität von strahlender Wärme: die ideale Duettpartnerin des lyrischen Tenors –, dann Florinda, die nicht nur mit dem Namen als Partnerin eines Florestan in Beziehung steht, sondern auch heroisch handelt wie Beethovens Leonore, um den Gefangenen Roland zu retten. Liuba Chuchrova entfaltet in dieser facettenreichsten Partie der Oper einen sensiblen Sopran, dem wohl im dramatischen Zugriff etwas enge Grenzen gesetzt sind. Aber die furiose Arie «Die Brust gebeugt von Sorgen» gehörte denn doch zum Packendsten der Oper. Und stark war auch ihre Gestaltung der melodramatischen Szenen, mit denen Schubert für sie aufwartet.

Der Vater
Den Schuberts stehen mit dunkler Stimme zwei Vater- und Machtfiguren gegenüber. Oft thronen sie auf dem hohen Stuhl: László Polgár als König Karl ist nobler und charismatischer auch in der Tongebung, Rolf Haunstein als Maurenfürst für den draufgängerischen Wüterich mit gröberen Mitteln. Claus Guths Idee, Schuberts problematisches Verhältnis zum Vater in das Stück hineinzuprojizieren, gibt beiden ein klares Relief – wobei allerdings im Hinblick auf Schuberts Situation auch die weiteren Überväter ins Bild gerückt werden könnten, mit denen er es zu tun hatte: Goethe, der Dichterfürst, Rossini, der Napoleon der Musik, der Beethoven, der Titan, und natürlich wäre da die Metternich-Monarchie, überhaupt eben die Welt ausserhalb der vier Wände.

Und es gibt sie auch, die musikalischen Momente, die hinausdrängen und nach Zeitbildern anderer, vielleicht unheilvollerer Art rufen, so etwa wenn Roland und Eginhart im Finale des zweiten Aktes «für treue Lieb’ und Vaterland» zum Marschlied der Ritter ansetzen. Der politische Schubert? In der Ouvertüre melden sich, in ein Webersches Streichertremolo hineingestellt, die Bläser (Hörner und Posaunen) mit dem Choral, den dann später die Männer im Chor a cappella anstimmen werden: «O teures Vaterland» als Motto? Das sind Fragen, die am Rande bleiben (dürfen). Die endgültige Inszenierung gibt es zum Glück weder für «Fierrabras» noch sonst irgendein Werk, und der Zürcher Opernabend ist szenisch wie musikalisch vielschichtig und – auch dank Irène Friedli, Christiane Kohl, Guido Götzen, Miroslav Christoff in den Nebenpartien – reich genug.
Video capture: Fierrabras 2005/2006






 
 
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