Neue Zürcher Zeitung, 12 .11. 2002
Peter Hagmann
Fierrabras, Zürich, November 2002
Schuberts Traum
«Fierrabras» im Opernhaus Zürich
Sein kurzes Leben lang hat Franz Schubert geradezu verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit gesucht. Rastlos hat er seine Freunde mit Briefen versorgt, und immer wieder hat er darum gebeten, ihm doch möglichst bald zurückzuschreiben, weil er ohne Post so schlecht leben könne. Und dann «Mein Traum» von 1822, die kurze Erzählung aus der Feder des 25-jährigen Komponisten - sie zeigt eine Mutter im Sarg und einen Vater, der seinen Sohn und dessen Liebesbeteuerungen mit strenger Miene von sich weist, ihn am Ende aber unter Tränen doch noch in die Arme schliesst.

Und sein kurzes Leben lang hat Franz Schubert ebenso hartnäckig wie erfolglos nach der Oper gesucht. Achtzehn Anläufe nennt das Werkverzeichnis. Mit Vierzehn fing er an, «Der Spiegelritter» von 1811 blieb Fragment, «Des Teufels Lustschloss», zwei Jahre später, wurde fertig, kam aber nicht zur Aufführung. So erging es auch «Fierrabras», der heroisch-romantischen Oper von 1823. Schubert war von Domenico Barbaja, dem Direktor des Wiener Kärntnertortheaters, zur Komposition einer deutschen Oper aufgefordert worden. «Alfonso und Estrella», bereits abgeschlossen, stiess nicht auf Gnade, weshalb er in Eile «Fierrabras» schrieb - auf einen Text von Leopold Kupelwieser, der an besagtem Theater tätig war und die Uraufführung befördern sollte. Allein, die deutsche Oper war nicht mehr gefragt, und ohnehin galt Schubert schon damals ausschliesslich als genialer Liederkomponist.

Fast hundert Jahre vergingen, bis das Werk zum ersten Mal auf die Bühne kam; und damals stand ja schon das berühmte Verdikt von Eduard Hanslick im Raum, der nach einem Wiener Konzert mit Ausschnitten aus «Fierrabras» befunden hatte, das Stück setze ein Publikum in «vollständigem Kindheitszustand» voraus. So blieb es still um diese seltsame Oper - selbst nach der Ausgrabung durch Claudio Abbado und Ruth Berghaus anlässlich der Wiener Festwochen von 1988. Und ein neuerlicher Versuch in Frankfurt (NZZ vom 9. 10. 02) hat eigentlich nur die Vorurteile bestätigt.

Und nun geht, noch mitten in der wunderschönen, auch wunderschön gespielten Ouverture, der Vorhang auf. Ein biedermeierliches Wohnzimmer wird sichtbar, mit Holztäferung und gestreifter Tapete. In der Mitte des Zimmers des Liederkomponisten Instrument: ein Hammerflügel, überlebensgross, ein Stuhl in passender Dimension und darauf, zum Kinde verkleinert: Franz Schubert. Ja, der Regisseur Claus Guth lässt in der neusten Inszenierung von «Fierrabras» und der jüngsten Produktion des Opernhauses Zürich den Komponisten in Person auftreten. Er steht als der auf der Bühne, der sich dieses ganze Stück ausdenkt und geschehen lässt. Geschäftig holt er eine Figur nach der anderen aus den unzähligen Türen, die in die Holztäferung eingelassen sind, beflissen hält er den Darstellern die eben noch hastig beschriebenen Notenblätter hin. Mit kaum sichtbarer Regung, aber umso fühlbarer verfolgt er den musikalischen Ablauf. Manchmal erschrickt er, weil ihm die Kontrolle zu entgleiten droht; dann verzieht er sich unter den Flügel und beobachtet, etwas ängstlich, das Geschehen aus sicherer Distanz. Manchmal greift er wieder entscheidend ein, indem er im richtigen Moment die fehlende Waffe aus der Versenkung hervorzaubert. Und immer wieder steht er als der ertappte Bub da, den Kopf zwischen den etwas dicklichen Schultern versenkt - Wolfgang Beuschel macht das schlechterdings grossartig.

Natürlich mag man denken: Schubert, das Schwammerl aus dem «Dreimäderlhaus», welch abgestandenes Klischee. Aber das trifft es nicht. Der Komponist erscheint einfach so, wie ihn Moritz von Schwind auf den «Schubertiaden» gezeichnet hat: weich und sensibel inmitten von Menschen. Und «Fierrabras» wird als eine jener Scharaden gezeigt, die bei den «Schubertiaden» zu den Höhepunkten gehörten. Die Schwerter, welche die Mannen von Karl dem Grossen mit sich führen, die Krummsäbel, mit denen die Soldateska seines furchterregenden Gegners Boland fuchtelt, sie sind aus Holz; und lagern Truppen auf waldiger Anhöhe, werden unter dem gewaltigen Hammerflügel Spielzeugtannen ebenfalls aus Holz aufgestellt. Das spielt ein wenig auf das Verdikt Hanslicks und damit auf die Rezeptionsgeschichte an, aber vielleicht auch darauf, dass Schubert seine Opern irgendwie naiv, aus sich selbst heraus und ohne Rücksicht auf die herrschenden Strömungen geschrieben hat.

Vor allem aber bricht es das Pathos des Textes, das uns heute - die Frankfurter Aufführung hat es bestätigt - etwas lächerlich erscheint. In diese Richtung wirken auch zahlreiche weitere Verfremdungen: die riesige Kuckucksuhr, deren Pendel künstlich langsam schwingt, das durchgehende Augenzwinkern und das bewusste Vorführen des Spiels als Spiel, die Wandtafel, auf der in Schulschrift die dramatis personae und ihre schwierigen amourösen Verbindungen aufgelistet sind. Der Zeigefinger, den Bertolt Brecht in seinem epischen Theater gern erhebt, bleibt aber völlig ausgespart; die Produktion lebt vielmehr, und zwar szenisch wie musikalisch, von einer ganz einzigartigen Zärtlichkeit.

Bisweilen allerdings öffnet Schubert auf der Bühne den Mund. Dann bricht in die Fülle des Wohllauts, den die Säger verbreiten, eine schüttere, etwas krächzende Sprechstimme ein. Und werden einzelne Wörter, halbe Sätze hörbar: Text, den nicht etwa der Regisseur Claus Guth dazuerfunden hätte, sondern kurze Passagen aus dem laufenden Dialog, die den handelnden Figuren gleichsam weggenommen, dem Schauspieler übertragen und dadurch unterstrichen werden. «Vater» ist da zum Beispiel immer wieder zu hören oder: «streng ist er». Claus Guth stellt Schuberts «Fierrabras» ganz und gar in ein autobiographisches Licht - so wie es, wenn auch ganz anders, Christoph Marthaler Anfang dieses Jahres mit seiner «Schönen Müllerin» getan hat. Er denkt sich, dass Schubert an diesem Stück vielleicht ein eigenes Problem interessiert hat. Roland und Eginhard auf der einen, Fierrabras auf der anderen Seite - die drei jugendlichen Helden, die sich übers Kreuz für die Töchter ihrer beiden auf den Tod verfeindeten Könige interessieren: Sie tragen allesamt den dunkelblauen Gehrock und die runde Nickelbrille, die der Ausstatter Christian Schmidt für den Komponisten auf der Bühne geschaffen hat. Und alle tragen sie schwer an ihren Vätern, von denen der Muslim ein besonders schlimmer ist. Am Ende, wenn das sogenannte lieto fine in oratorischer Form vorgetragen wird, holt sich der Komponist seine beiden Väter und wirft sich ihnen an die Brust.

Claus Guth, eine Ausnahmeerscheinung unter den Theaterkünstlern seiner Generation, gehört nicht zu den Opernregisseuren, die gefällige Bilder arrangieren oder dampfendes Spektakel erfinden. Er setzt sich mit den von ihm inszenierten Stoffen auseinander, eigenständig und kreativ, und er lässt auf der Bühne sehen, was ihm eingefallen ist. Früher hat man das Regietheater genannt und sich aufgeregt, heute spricht man vielleicht noch von szenischer Interpretation, und die freundliche Gleichgültigkeit, mit der das Zürcher Premierenpublikum reagiert hat, spricht Bände. Der Zürcher «Fierrabras», das darf hier ganz unpathetisch festgehalten werden, gehört zu den besten Produktionen, die das Musiktheater in den letzten Jahren hervorgebracht hat; mit seinem geistreichen, anregenden Interpretationsansatz und dessen differenzierter, phantasievoller Umsetzung ist hier zudem ein Weg aufgetan worden, dieses störrische Stück überzeugend auf die Bühne zu bringen.

Am stärksten sind die szenischen Eindrücke, doch gewinnt die Produktion ihr aussergewöhnliches Profil nicht zuletzt aus dem Musikalischen. Den Intentionen des Regisseurs entsprechend nimmt der Dirigent Franz Welser-Möst der Partitur jede heroische Geste - mit der Ausnahme jener furiosen Arie, mit der Boland, der Fürst der Mauren, auf dem Höhepunkt des Konflikts seine Unerbittlichkeit betont: ein grosser Auftritt für Rolf Haunstein. Im Übrigen, und das Orchester der Oper Zürich agiert dabei hervorragend, herrschen geschmeidiger Fluss und lichter Ton. In ihrer Plausibilität immer wieder überraschend die Tempi, grossartig die leuchtenden Farben der Holzbläser und das kernige Schmettern der verschiedentlich auftretenden «Fidelio»-Fanfare, mit letzter Sorgfalt ausgestaltet die dynamischen Verhältnisse. Besonders verdient macht sich der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor des Opernhauses, und hier gerade der Männerchor, der die heikle A-cappella-Hymne der Ritter im zweiten Akt tadellos bewältigt.

Und im Ensemble gibt es vollkommene Hingabe und denkwürdige Momente. László Polgár, König Karl und der andere - nein: der eigentliche Vater Schuberts, ist nicht nur prächtig bei Stimme, er nimmt seine Partie auch mit einer körperlichen Leichtigkeit und einem Sinn fürs Ironische, dass ihre bedrohliche Würde ebenso gebrochen wird, wie sie heraustritt. Sängerisch auf hohem Niveau die drei «Söhne» und Ebenbilder des Komponisten: Roland (Michael Volle) und Eginhard (Christoph Strehl) sowie Fierrabras, der in der Darstellung von Jonas Kaufmann weniger der «mit dem stolzen Arm» als der von Sehnsucht erfüllte Jugendliche ist. Nicht ganz so befriedigend die beiden Königstöchter, da sowohl Joanna Kozlowska (Emma) als auch Liuba Chuchrova (Florianda) in Stimmgebung wie Diktion angestrengt wirken. Umso überraschender der helle Sopran, den Christiane Kohl in der kleinen Rolle einer Jungfrau in Emmas Gefolge hören lässt.
Foto: Copyright: Suzanne Schwiertz, Zürich






 
 
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