Frankfurter Rundschau, 18.05.2023
Von: Judith von Sternburg
 
 
Tenor Jonas Kaufmann: „Ein hohes C kann kein Selbstzweck sein“
 
Der Tenor Jonas Kaufmann über das Getue um Spitzentöne, die Wichtigkeit der ersten Note, Regie, die der Kraft der Musik nicht traut, und seinen Arienabend am Sonntag in Frankfurt.

Herr Kaufmann, wie stehen Sie als Sänger zum Zwischenapplaus auf der Bühne?

Kommt darauf an. Wenn ich für einen Liederabend Gruppen zusammenstelle, bei denen die Stücke sich aufeinander beziehen oder zusammen eine Geschichte erzählen, und dann wird nach jeder Nummer geklatscht, dann erlaube ich mir, eine kleine Ansprache zu halten: Dass ich mich sehr über den Applaus freue, aber mich noch mehr freuen würde, wenn das Publikum ihn sich bis zum Schluss aufbewahren würde. Meistens wird das gut aufgenommen. Neulich habe ich es allerdings erlebt, dass eine Dame danach demonstrativ nach jeder Nummer geklatscht hat, weil sie es einfach nicht gut fand, dass ich das gesagt habe. Das gibt’s halt auch. Ich verdonnere niemanden dazu, nicht zu klatschen.

Was bekommen Sie auf der Bühne überhaupt vom Publikum mit, gerade bei einer Oper, wenn ja auch bei Ihnen oben eine Menge los ist?

Unterbewusst spürt man sehr viel, selbst in der Oper, aber im Konzert natürlich erst recht. Man spürt, ob man die ungeteilte Aufmerksamkeit hat, ob man selbst intensiv genug ist, um alle mitzunehmen, oder ob es eher so ist, dass man nur beobachtet wird. Ich kann gar nicht genau sagen, woran man es merkt, aber ich bilde mir jedenfalls ein, das mit den Jahren sehr gut zu spüren. Und dementsprechend zu wissen, wann ich eventuell noch etwas mehr geben kann. Wenn man die Aufmerksamkeit bereits hat, kann man mit Feinheiten arbeiten.

Zumindest das Smartphoneproblem ist in Deutschland noch weit weniger ausgeprägt als anderswo, oder?

Extrem ist da China. Der Saal ist ganz dunkel, überall leuchten die Handys, es wird gefilmt und direkt gepostet, eine unglaubliche Unruhe. Da muss man sich sehr beherrschen, um sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Das ist aber eine große Ausnahme, in Japan oder Korea zum Beispiel ist das Publikum viel disziplinierter – und trotzdem sehr enthusiastisch. Da wird hinterher gejubelt und geschrien. Es geht also nicht um Zurückhaltung insgesamt.

Sie haben bestimmt schon Nummern wiederholt. Gefällt Ihnen das? Sehr respektvoll ist es gegenüber einer Oper nicht.

Es ist die Ausnahme von der Regel, es passiert in den seltensten Fällen. Bei einer „Tosca“-Serie in Spanien vor zwei Jahren mit Sondra Radvanovsky mussten wir jedes Mal die Arien „Vissi d’arte“ und „E lucevan le stelle“ wiederholen. Wenn der Applaus fünf Minuten und länger ist und es einfach keine Chance gibt weiterzumachen, muss man sich den Gegebenheiten eben fügen. Es ist natürlich auch eine Freude. Und ich bin froh darüber, dass ich es hinbekomme. Eine Arie zu wiederholen ist ja kein Spaziergang.

Sie sind ein sehr guter Darsteller und gefallen mir eigentlich besonders gut in konzertanten Aufführungen, wo alles ein wenig stegreifhafter ist. Sind Sie gerne auf sich gestellt auf der Bühne? Sind Sie ganz froh, wenn mal kein Regisseur in der Nähe ist?

Ich habe nichts gegen Regisseure, bestimmt nicht. Aber klar, wenn ein Regisseur kein Vertrauen in die Kraft der beteiligten Darsteller oder, noch schlimmer, in die Kraft der Musik hat, dann ist es manchmal eher störend als hilfreich. Irgendwelche Nebengeschichten auf der Hinterbühne, damit sich das Publikum bloß nicht langweilt, mit der Folge, dass es sich eben langweilt, weil es von der Kraft der Musik nicht mehr profitieren kann – damit kann ich wenig anfangen. Konzertante Aufführungen können sogar besonders intensiv sein, wenn alle Beteiligten das Stück sehr gut kennen und miteinander in Kontakt sind.

Sie stehen auf der Opernbühne, geben Liederabende – wie passt sich da ein Arienabend wie jetzt in Frankfurt ein? Und gehört das eher zur Oper oder zum Konzert?

Es sind natürlich Konzerte, allerdings muss ich dabei einen Höhepunkt nach dem anderen liefern. Während ein Liederabend also auch der Erholung der Stimme dienen kann, wenn alles gut geht, kann man das über einen Arien-Abend wirklich nicht sagen. In einer Opern-Vorstellung habe ich vielleicht einen dicken Mantel an und schwitze, aber dafür bin ich sehr oft nur Zuhörer. Ich gebe vielleicht zwei, drei Stichworte, bin Teil eines Duetts oder Trios, wo man sich gegenseitig trägt, und dann gehe ich für 20 Minuten in die Garderobe. Und das Publikum wird trotzdem weiterhin auf gleichem Niveau unterhalten, ich muss nicht wieder von vorne anfangen, sondern kann einfach wieder einsteigen.

Stimmt, bei einer Arie-Abfolge müssen Sie ständig zusammenhanglos von null auf hundert.


Nehmen Sie „Otello“, die Szene im 3. Akt nach dem großen Streit. Desdemona ist rausgerannt, Otello ist am absoluten Tiefpunkt. Jetzt diese Zerstörtheit mit der ersten Note zu erwischen, sich mit den Gefühlen aus dem Nichts so sehr aufzuladen, dass die Stimme genau den Klang bekommt, den sie in dieser Situation braucht, das ist alles andere als einfach.

Aber wenigstens nicht so hoch.

In einer Oper hat der Tenor vielleicht zweimal sehr hohe Töne, im Konzert aber 15-mal, weil sie halt in jeder Arie vorkommen. Für das Publikum ist es aber eine Einladung zum Mehr. Vielleicht sind Menschen so fasziniert von einer Arie, dass sie dadurch dann auch in die Oper gehen, weil sie wissen wollen, wie diese Geschichte funktioniert. Bei einem Arienprogramm kann der Funke überspringen.

Die Leistung eines Tenors kommt zugleich nie so sehr in die Nähe einer Zirkusnummer.

Man muss es schaffen, so ernsthaft, so wahrhaft einen Charakter darzustellen, dass es überhaupt nicht um die hohen Töne geht. Sondern dass das Publikum sofort gefangen genommen ist von dem Charakter, von der Situation. So dass die „Zirkusnummer“ überhaupt keine Rolle mehr spielt.

Was bedeutet Ihnen selbst das hohe C und sein Erreichen?

(Jonas Kaufmann lacht) Mit mittlerweile fast 54 Jahren und angesichts der vielen Partien, die ich gesungen habe, kann ich mich glücklich schätzen, dass es mir bis heute erhalten geblieben ist. Aber meine Lieblingsnote war es nie und wird es nie werden, eben wegen dieses Getues darum. Ich erinnere mich an frühe Vorsingsituationen, bei denen es zwangsläufig irgendwann hieß: Ach und würden Sie bitte noch „La Boheme“ singen, und fangen Sie doch gleich bei „Talor“ an. Und ich sagte dann: „Sie wollen doch wissen, ob ich das hohe C habe oder nicht. Soll ich Ihnen nicht einfach ein paar hohe Cs vorsingen, dann machen wir es uns alle leichter.“ Darauf betretenes Schweigen. Ich finde es erniedrigend, dass ein so unglaublich schönes Stück nur auf diesen einen Ton reduziert wird, einen Ton, der ja noch nicht einmal notiert ist. Ein hohes C muss gut und sinnvoll in einen Kontext gepackt sein, der Ton kann kein Selbstzweck sein. Außerdem nimmt das Publikum an sich gar nicht wahr, was nun wirklich ein hohes C ist.

Oder doch ein B oder H. Ihre Stimme hat Rückschläge erlitten, sich aber auch wieder erholt. Wie bekommen Sie das hin, worauf verzichten Sie?

Ich habe nicht den Eindruck, auf etwas zu verzichten. Wichtig ist Ehrlichkeit mit sich selbst und dem Zustand der Stimme. Man muss langfristig überlegen: Welche Partie kann ich mir wann zumuten – und in welchen Kombinationen. Gerade habe ich als Tannhäuser debütiert, danach die „Walküre“ gesungen und als nächstes eine Konzert-Reihe mit Verdi-Arien. Das hätte ich mich vor fünf Jahren nicht getraut. Heute weiß ich, dass ich das kann. Da braucht man halt viel Erfahrung.

Und muss vermutlich gelegentlich Nein sagen.

Wenn mir klar ist, dass ich nicht in der Lage sein werde, einen Abend zu singen, muss ich absagen. Es muss mir dann egal sein, ob es der wichtigste Abend des Jahres ist. Oder der gewinnbringendste. Ich denke ausschließlich langfristig, an die Dauer der Karriere. Mir macht mein Beruf so viel Spaß, dass ich ihn so lange wie möglich mit Würde ausfüllen möchte.

Eine Stimme ist ständig in Bewegung. Hat Corona Ihnen auch Rollen weggenommen? Das Tannhäuser-Debüt kam zum Beispiel jetzt doch recht spät.

Das war früher geplant, stimmt, das hatte aber letztlich nichts mit Corona zu tun, da wurde eine Produktion getauscht. Natürlich gibt es auch bei mir Rollen, die fehlen und die ich vielleicht abschreiben muss …

Zum Beispiel?

Der „Maskenball“ gehört dazu, eine Arie werde ich jetzt in Frankfurt singen, aber das ganze Stück habe ich leider nie gemacht.

Beim Rheingau Musik Festival haben Sie 2022 in Wiesbaden den Prolog von Tonio aus dem „Bajazzo“ gesungen, aber versichert, sie hätten keinesfalls vor, ins Baritonfach zu wechseln. Wird es dennoch in ferner Zukunft darauf hinauslaufen?

Ich denke nicht, auch wenn man nie nie sagen darf. Was weiß ich, wo ich in 20 Jahren bin. Aber in allen Szenarien, die ich mir ausmalen kann, ist das nicht dabei.

Aber es gäbe wunderbare Rollen, denken Sie an Scarpia.

Eine tolle Rolle, keine Frage. Und es ist sicher schwer, irgendwann Abschied zu nehmen von der Bühne, das kann ich schon verstehen. Aber ein Bariton zu werden, das kann ich mir trotzdem nicht vorstellen. Beim Tonio-Prolog, den ich auch in Frankfurt singen werde, ist es oben ein Halbton weniger und unten ein Ganzton mehr als beim Monolog des Canio.

Wie finden Sie die Akustik in der Alten Oper?

Sie ist akustisch normal, würde ich sagen, die typische Frontalsituation. Der Saal ist natürlich ein wenig lang.

Das ist sehr höflich ausgedrückt.

Aber das ist hoffentlich nur optisch ein Problem und nicht akustisch.
 






 
 
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