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crescendo, 28. November 2021 |
By Rüdiger Sturm |
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Faszinierende Komplexität und Vielseitigkeit
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Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch widmen
sich auf ihrem Album „Freudvoll und leidvoll“ Liedkompositionen von Franz
Liszt. Im Gespräch erläutern sie die Entstehung des Albums, die verkannten
Meriten dieser Lieder und den Wunsch, Bleibendes zu schaffen.
CRESCENDO: Wie fühlt es sich an, ein Album mit Raritäten
aufzunehmen?
Jonas Kaufmann: Wenn wir ein
Liedalbum aufnehmen dürfen, dann ist das ja an sich schon eine Rarität.
Zumindest in der heutigen Zeit muss man das so nennen. Und wenn dann auch
noch das Repertoire nicht die Winterreise oder ein ähnlich berühmter Zyklus
ist, dann trifft das umso mehr zu. Beim letzten Album „Selige Stunde“ hatten
wir die Idee, dass man einen bunten Strauß von Liedern aufnimmt, die als
verbindendes Element einfach nur die Stimmung, das Gefühl und die Atmosphäre
haben. Und nun haben wir genau das Gegenteil gemacht, mit genauso schönen,
genauso stimmungsvollen, genauso wunderbaren Melodien. Aber sie sind eben
alle von demselben Komponisten – und haben trotzdem die gleiche Vielfalt.
Besser könnte man die beiden Projekte nicht nebeneinanderstellen: Ein Album
von 18 verschiedenen Komponisten, dieses hier dagegen von einem einzigen.
Warum glauben Sie, dass wir das Liedgut Liszts wiederentdecken
sollten?
Jonas Kaufmann: Die Komplexität
und die Vielseitigkeit dieser Lieder sind unglaublich faszinierend. Das sind
Lieder, die sehr modern wirken, teilweise hochromantisch. Und dann wieder
entschlackt und fast atonal. Es ist ein unglaubliches Spektrum, dabei gibt
es kein Lied, bei dem man den Eindruck hätte, der Text sei nicht so ernst
genommen oder erhöht worden durch die Musik. Das ist umso erstaunlicher,
wenn man sich zwei, drei, manchmal sogar vier Fassungen ein- und desselben
Textes anhört, die er geschrieben hat und die mitunter verschiedener nicht
sein könnten: sehr langsam, sehr schnell, sehr getragen, sehr spritzig.
Dennoch hat man nicht das Gefühl, das eine würde passen und das andere
nicht. Es ist die Vielseitigkeit, die mich fasziniert, aber natürlich auch
die gesanglichen Anforderungen. Wie für das Klavier – er war ja ein
begnadeter Pianist – hat er auch für die Stimme herausfordernde Passagen
geschrieben, die man als Sänger natürlich sehr gerne annimmt.
Wie entwickelte sich in der Zeit der Pandemie, während der Sie
bereits 2020 ein Album präsentierten, der Plan für diese Aufnahmen?
Jonas Kaufmann: Ich weiß aus vielen Erzählungen, dass Helmut bereits als
junger Mann an diesem Komponisten einen Narren gefressen hatte, dadurch hat
er auch mich als Studenten sehr früh damit infiziert. Das Erste, was wir
immer wieder gemacht haben, sind die großen drei Petrarca-Sonette gewesen.
Später haben wir dann das Programm erweitert, und so war seit vielen Jahren
der Gedanke: Wir müssen dringend ein Liszt-Album machen. Und ja, Corona hat
uns auch hier geholfen und uns die Zeit beschert, die wir sonst nicht gehabt
hätten.
Warum wurde dieses Repertoire eigentlich so
vernachlässigt?
Helmut Deutsch: Im
Vergleich zu den großen Klavierwerken, die zum Teil immer populär gewesen
sind, waren die Lieder einfach nicht geeignet für Hausmusik. Es gibt etliche
Lieder von Schumann, Schubert und Brahms, die man zu Hause als Amateur
spielen und singen kann. Bei Liszt ist das ein bisschen anders: Zwar wurden
sie teilweise zu seinen Lebzeiten im Konzertsaal sehr viel gespielt, für zu
Hause wurden sie aber nicht adaptiert. Als Hausmusik gab es sie gar nicht.
Und über Liszt wurde sehr, sehr viel geschimpft und gelästert, weil er mit
den nicht unbedingt stärksten Kompositionen bekannt geworden ist.
Welche Kompositionen waren das?
Helmut
Deutsch: Das waren die Ungarischen Rhapsodien, die damals sehr
populär waren, und es waren die Opernparaphrasen. Die Lieder sind eigentlich
immer ein bisschen zu kurz gekommen und eine Zeitlang vergessen gewesen. Ich
fand es immer besonders schade, dass er als Liedkomponist so unterschätzt
ist. Liszt ist ein bedeutender Mann, der in vielen Stilen schreibt. Man kann
ihn nicht so festlegen wie einen Schumann zum Beispiel, wo man nach ein paar
Takten weiß: Das ist Schumann. Er hat auch sehr lange gelebt, sich in seinem
Stil stark geändert und war ein Wegbereiter für die Zukunft. Es gibt große
Komponisten wie beispielsweise Bartók, die sagen, Liszt hätte für die
Zukunft der Musik wesentlich mehr getan als Wagner.
Das Lied
Freudvoll und leidvoll hat dem Album seinen Titel gegeben. Warum?
Helmut Deutsch: Freudvoll und leidvoll hat eine spezielle
Geschichte. Dass ein Komponist eine Vertonung von einem Gedicht schreibt und
dann Änderungen vornimmt, das ist überall vorgekommen, das gibt es bei
vielen Komponisten. Aber Freudvoll und leidvoll ist eine extreme Sache, weil
er dasselbe Gedicht einmal sehr dramatisch vertont hat und dann noch einmal
sehr, sehr lyrisch – zwei völlig verschiedene Blickpunkte also innerhalb
einer kurzen Zeit. Natürlich geht es in den Liedern nahezu immer um die
Liebe. Und das Freudvoll und leidvoll gibt es in der Liebe natürlich genauso
wie in der Musik. Deshalb ist es ein gutes Motto für das Album.
Dann haben wir noch den Fall von O lieb, solang du lieben kannst,
dessen Melodie als Klavierstück auf der ganzen Welt bekannt ist. Warum
eigentlich nicht in der ursprünglichen Liedversion?
Helmut Deutsch: Es gibt viele Gründe, warum die Lieder zum Teil gar
nicht wirklich erfolgreich waren. Manchmal ist Liszt selbst schuld. Er hat
erkannt, dass zum Beispiel die Melodie von O lieb, solang du lieben kannst
eine großartige Erfindung war. Und auch damals war es so, dass man
Klavierabende oder Klaviervirtuosen mehr geschätzt hat als Liederabende. So
hat er einfach ein Klavierstück mit dem schönen Titel Liebestraum daraus
gemacht. Dann gibt es einen Liebestraum 1 und 2 und 3. Viele sind erstaunt,
dass es ursprünglich ein Lied ist. Dasselbe hat er auch mit den
Petrarca-Sonetten gemacht. Er hat einfach drei wunderbare Klavierwerke
daraus gemacht, und die sind bei den Pianisten sehr populär. Die Lieder
dagegen sind in den Hintergrund getreten.
Wie war die Genese
der Petrarca-Sonette?
Jonas Kaufmann: Liszt
hat sozusagen das Ganze geteilt. Er hat zum einen aus den drei Sonetten, die
er ursprünglich für Tenor geschrieben hatte, mit großer Virtuosität und mit
sehr langen Zwischenspielen fürs Klavier in einem ähnlichen Charakter die
Klavierstücke gemacht, zum anderen hat er sie total entschlackt, eigentlich
fast all ihrer romantischen Zwischenspiele beraubt – eine Baritonfassung der
Lieder. Es ist erstaunlich, dass die Baritonfassung viel öfter zu hören ist
als die ursprüngliche Tenorfassung. Aber ich glaube nicht, dass es an der
musikalischen Qualität dieser Fassung liegt.
Helmut Deutsch:
Nein, sie ist leichter zu singen.
Jonas Kaufmann: Na
klar, und zu spielen.
Helmut Deutsch: Liszt hat in
späteren Jahren beklagt, dass er in seinen frühen Liedern so große, üppige
Klavierbegleitungen geschrieben hat. Was eben dem Charakter der Texte
manchmal nicht ganz entspricht. Das ist sehr effektvoll, aber er hat sich in
späteren Jahren immer mehr zurückgenommen, so weit, dass der Sänger mit ein
paar Akkorden nur unterstützt wird. Dieses große üppige Klaviergeschehen
fiel weg.
War das auch so bei Es muss ein Wunderbares sein?
Helmut Deutsch: Nein. Das ist die große Ausnahme. Bei
sehr vielen Liedern hat er über Jahrzehnte hinweg rumgedoktert, rumgefeilt
und rumgeändert. Er hat sehr viel daran hingebastelt, weil er mit dem
Resultat immer unzufrieden war. Und er hat vor allem versucht, sie immer
mehr zu entschlacken. Aber Es muss ein Wunderbares sein hat er am 13. Juli
1852 in einem Wurf hingelegt und nicht mehr geändert. Und da ist auch kein
Ton zu viel oder zu wenig. Das ein ausgesprochen schlichtes Lied, aber sehr,
sehr berührend.
Und Es muss ein Wunderbares sein gehörte
zwingend auf das Album? Wie sehen Sie das, Herr Kaufmann?
Jonas Kaufmann: Ja, das ist, glaube ich, auf einem
Liszt-Album Pflicht. Es ist eines seiner berühmtesten Lieder – es war in
seiner Zeit auch eine der berühmtesten Melodien, ein Schlager, ein
„Gassenhauer“, wie man so schön sagt, den die Leute auf der Straße gesungen
und gesummt haben, den jeder kannte. Dementsprechend wäre es wirklich ein
großer Fehler gewesen, das nicht mit reinzunehmen. Und für diejenigen, die
sich mit der Operette beschäftigen, gibt es auch diese herrliche Parallele
zu Ralph Benatzkys Im Weißen Rössl, in dem der Oberkellner Leopold das Lied
singt Es muss was Wunderbares sein, von dir geliebt zu werden. Es fängt von
der Melodie her extrem ähnlich an, und deshalb nimmt man an, dass die Leute
sich damals darüber kaputtgelacht haben, dass man aus dem bekannten
Liszt-Lied einen Operettenschlager gemacht hat. Ein Grund mehr, warum das
Lied auf diesem Album sein musste.
Franz Liszt war ein
Superstar seiner Epoche – Sie, Herr Kaufmann, sind es auf Ihre Weise in der
Jetztzeit. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Jonas
Kaufmann: Möglichst gelassen. Das Wichtigste ist ja, dass man als
sogenannter „Star-Tenor“ – ein Etikett, das ich nicht sehr mag – auf dem
Boden bleibt. Dafür sorgt ja beim Sänger schon der Körper, wenn man ihm
nicht genug Zeit gibt, die Batterien aufzuladen. Wichtig ist aber auch, dass
man zwei, drei Menschen um sich haben sollte, die einem die Wahrheit sagen
und nicht per se alles toll finden, was man macht.
Sehen Sie
es generell als Verpflichtung, dem heutigen Publikum dank Ihres
Bekanntheitsgrads unbekannte Künstler oder Kompositionen zu vermitteln?
Jonas Kaufmann: Natürlich kann ich als bekannter
Künstler etwas für Komponisten und Werke tun, die es lohnen, entdeckt oder
wiederentdeckt zu werden, und mich für Projekte einsetzen, die mir am Herzen
liegen. Doch natürlich sollte das Repertoire auch für die Plattenfirma und
für das Publikum interessant sein, und bei aller Begeisterung für verborgene
Schätze sollte man sich nicht einbilden, man hätte einen Lehrauftrag und
müsste das Publikum erziehen und bilden.
Machen Sie sich
selbst Gedanken darüber, etwas Bleibendes zu schaffen, das auch in 100 und
mehr Jahren noch Bestand hat?
Jonas Kaufmann:
Ich denke, jeder kreative Mensch ist von dem Wunsch beseelt, etwas
Bleibendes zu schaffen. Da sind Künstler, die in erster Linie live vor
Publikum auftreten, mit den Errungenschaften des technischen Zeitalters
heute viel besser dran als die zu Zeiten von Wagner und Verdi, wo ja von
Sängern und Schauspielern praktisch nichts blieb außer den Erinnerungen von
Zeitzeugen. Seit der Erfindung der Platte und Caruso als erstem Superstar
des neuen Mediums haben wir die Möglichkeit, etwas zu hinterlassen. Und
natürlich möchten wir, dass uns diese Momentaufnahmen so gut wie möglich
dokumentieren. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich Einfluss darauf habe,
welche Stücke aufgenommen werden, mit welchen Partnern und an welchem Ort
und wie das Ganze dann editiert und präsentiert wird.
Das
Album schließt mit der Vertonung von Goethes Wanderers Nachtlied und seiner
Vision der ewigen Ruhe, die sich in Zukunft einstellen würde. Inwieweit
prägt dieses Bewusstsein Ihr eigenes Denken und Schaffen?
Jonas Kaufmann: Manche Menschen leben ja nach dem Prinzip
„Jetzt arbeiten und durchhalten, gelebt wird später.“ Das halte ich für den
falschen Ansatz. Keiner kann doch 20 Jahre im Voraus planen, niemand weiß,
wann der Stecker gezogen wird. Da wäre es doch gut, jeden Tag so zu leben,
dass man eine positive Bilanz ziehen kann, wenn es aufs Ende zugeht. Das
bedeutet auch, dass man die Dinge rechtzeitig klärt, nichts unausgesprochen
lässt, was einem wichtig ist – damit man, wenn die letzte Stunde schlägt,
mit sich selbst im Reinen ist. Und mit den Menschen, die einem nahestehen. |
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