Jonas
Kaufmann arbeitet kontinuierlich mit dem Pianisten Helmut Deutsch,
seinem ehemaligen Lehrer und inzwischen Freund. Ein Liederabend
beschwört für ihn vor allem eines: die Poesie des Augenblicks.
Ich empfinde den Liedgesang als die Königsklasse des Musizierens, weil
es die kleinstmögliche Form eines Ensembles ist: nur zwei Künstler, die
sich im Idealfall blind verstehen, die aufeinander vertrauen und
aufeinander hören. Das hat zur Folge, dass eine Interpretation jeden
Abend anders sein wird - nicht weil man jedes Mal alles anders macht,
sondern weil es darum geht, stets von vorne anzufangen und die Werke
jedes Mal wieder in einem neuen Licht zu sehen. Liedgesang ist daher
eine Form von Bekenntnis. Ich weiß, dass sich an der Interpretation des
Liedgesangs immer wieder die Geister scheiden: Die einen versuchen ein
Rollenspiel als objektiver Betrachter, der alles in eine Form bringt -
rational und überlegt. Andere wiederum adaptieren das Werk für sich
persönlich. Ich bin ein großer Verfechter der zweiten Variante: Für mich
ist Liedgesang die vielleicht zarteste, subtilste Form von Gesang im
Sinne der Emotionen. Es ist der tiefste Blick in die Seele. Ich muss
mich öffnen und in jedem einzelnen Lied meinen Seeleninhalt preisgeben.
In diesem Sommer singe ich u.a. Lieder von Gustav Mahler, Henri
Duparc und Richard Strauss. Mein Pianist Helmut Deutsch hat eine
unendliche Bibliothek, und die Suche nach dem Programm ist spannend.
Duparc hat gerade mal ein gutes Dutzend Lieder geschrieben, leider, muss
man sagen, denn wenn man diese Lieder hört, wünschte man sich, er hätte
sich noch intensiver diesem Metier zugewandt. Bei Mahlers
Rückert-Liedern stellt sich die Frage, ob man alle sechs macht. Strauss
war immer wahnsinnig aufschäumend.
Alle Werke betrachten das
Thema intensiver Gefühlsausbrüche oder Gefühlsausdruck von
unterschiedlichen Perspektiven, was für uns Musiker sehr spannend ist
und eine Herausforderung für den Sänger, denn er begibt sich auf die
schwierige Gratwanderung zwischen Sentiment und Kitsch. Man will
natürlich alles geben und ganz in der Musik aufgehen - zumindest ich
möchte das -, aber ich kann es eben nicht zu hundert Prozent
bewerkstelligen, denn in dem Moment, wo mein Gefühl derart echt wäre -
wenn mir echte Tränen kämen -, dann fiele vor dem Publikum plötzlich die
Maske der Rolle herunter, und es sähe den Privatmenschen mit seinen
Problemen. Der ganze Theateraufbau fiele zusammen, und das will man
nicht sehen. Was man sehen will, ist das Gefühl. Und dennoch muss ich
mit innerer Kontrolle singen, die wiederum nicht sichtbar sein darf. In
dem Moment, wo ich diese Kontrolle zu deutlich spüren würde, wäre ich
doch nur der technische Sänger.
Für mich erleichtert sich die
Sache, weil ich in Helmut Deutsch einen Musiker an der Seite habe, der
zwar früher mal mein Lehrer war, der aber heute ein richtiger Partner
und Freund ist. Nach dem Studium war es ein wenig kurios: Anfangs habe
ich mich überhaupt nicht getraut, irgendwas zu sagen - so erzählt es
zumindest Helmut Deutsch -, und immer vorsichtig formuliert: „Dürfte ich
vielleicht etwas sagen an der Stelle?" Er meinte nur: „Bist Du verrückt,
ich bin doch nicht mehr Dein Lehrer! Vergiss das, wir sind Partner und
müssen das gemeinsam machen." Ich kenne andere musikalische Partner,
denen es hilft, mit Reibungen und Konflikten zu ihren Begleitern ganz
neue Dimensionen zu erreichen. Ich bin allerdings sehr froh, dass unser
Musizieren konfliktfrei ist. Es ist schön, wenn man einen Partner hat,
der genauso denkt und meine Ideen schon erspürt, der um die Stärken und
Schwächen eines Sängers weiß.
Wir sind beide jedes Mal wieder
perplex nach einem Liederabend, wie viel Neues sich ergeben hat, selbst
wenn es nur Nuancen sind, die kaum jemand im Publikum wahrnimmt. Für uns
ist das ungeheuer erfrischend, wenn man spürt, wie es immer weitergeht,
und dass man immer neue Details der Musik entdecken kann. Es wäre
wirklich schade, wenn ich einmal an dem Punkt ankomme, an dem ich einen
Abend rein aus Routine mache, wie ein Komiker, der seine Pointen am
Fließband auswendig gelernt hat - das wäre wirklich nur Arbeit, Geld
verdienen. Aber ich mache diese Liederabende hauptsächlich, weil es Spaß
macht, weil es eine Freude ist zu musizieren und weil in dieser Form
alles möglich ist: Tempo, Dynamik, ob leise, laut, wie auch immer -
alles lässt sich sofort verändern, zumal ein Pianist, anders als ein
Orchester, in Sekundenbruchteilen einen Klang zurücknehmen kann. Diese
Freiheit genieße ich jedes Mal um so mehr, sodass ich wirklich die
Poesie des Augenblicks auskoste.