Frankfurter Rundschau, 14. Oktober 2010
Jürgen Otten
Da hüpft eine Wallung hinüber
 
Er macht gerade Weltkarriere und erhält am Sonntag den Klassik-Echo als Sänger des Jahres. Doch bei allem Ruhm – „ich mache mir keinen Druck“, sagt Opernstar Jonas Kaufmann. Ein Gespräch über die Erotik der Tenöre, zerstörte Stimmen – und eine Erwiderung an seinen prominentesten Kritiker.

Herr Kaufmann, mein fünfjähriger Sohn hat, als er das Cover Ihrer neuen CD mit Verismo-Arien auf dem Frühstückstisch liegen sah, behauptet, Sie sähen aus wie ein Räuber.

Wunderbar, das gefällt mir. Ich habe einen Kollegen im Orchester, der hat immer gesagt: „Ich habe einen Freund, der ist ein als Opernsänger getarnter Drogenhändler. So sieht der aus.“ Das Klischee will es ja auch so: lange Locken, Dreitagebart, Lederjacke. Aber letztlich sind die Typen, die ich auf diesem Album singe, teilweise ja auch wirklich so: so wild, so verwegen.

Es sind Verratene, Verkaufte, Verausgabte. Es sind die erbärmlich Gescheiterten der Opernliteratur.

Das wollte ich gerade sagen. Man muss schon aufpassen, dass man sich vor lauter Bekümmernis nicht aus dem Fenster stürzt. Weil es so brutal und ungeschminkter Verismo ist, so wahrhaft, so echt. Und dafür fand ich das Bild auf dem CD-Cover ideal: Dass man sieht, da ist einer, der auch anders kann als nur Heiteitei. Und damit kommen wir schon wieder in die Richtung Räuber.

Der den Großmüttern nicht nur die Kaffeemühle stiehlt wie Hotzenplotz, sondern in großen Teilen auch noch das Herz. Ernst Bloch hat den Tenor als „singendes Erotikon“ bezeichnet.

Ich betrachte das sehr gelassen. Natürlich freue ich mich sehr, wenn das, was ich an Emotionen und an Leidenschaft in meine Interpretation hineinlege, so auch beim Publikum ankommt. Solche Effekte, wie von Ihnen gerade geschildert, haben ja nichts damit zu tun, dass ich während der Aufführung den Leuten zuwinke oder zuzwinkere. Es liegt offensichtlich daran, dass da eine intensiv gefühlte Wallung hinüber hüpft, etwas, das diese Leute irgendwo berührt. Das finde ich ungeheuer faszinierend. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch die Gefahr: Man darf das nicht übertreiben, man muss es in Maßen machen.

Wie machen Sie das – Maß halten?

Ich muss mich ja exhibitionieren, weil ich wirkliche Gefühle zeige, auch wenn sie ein anderer komponiert hat – aber eben von mir empfunden. Irgendwann kommt der Moment, wo man Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren in diesen Abgründen. Kurzum: Das ist nicht ganz so ohne, dieses Metier.

Verfallen Sie den Figuren, die Sie während des Singens verkörpern, nie?

Ich bin immer ich selbst.

Der Schauspieler Ulrich Mühe hat einmal auf die Frage, ob er eine Figur auf der Bühne ganz sein oder sie „nur“ zeigen könne, geantwortet, vermutlich ginge das Sein nicht, nur das Zeigen.

Das sehe ich genauso. Das Tolle ist doch, dass man versucht, sich die ganze Zeit über im Zustand einer „kontrollierten Ekstase“ zu befinden, um ein Wort Herbert von Karajans aufzugreifen. Man versucht, so viel wie möglich an echten Emotionen in die Gestaltung einer Partie hineinzulegen, und dabei wirklich nur den allerallerletzten Krümel Verstand im Hinterkopf arbeiten zu lassen; der zieht den Stecker, wenn es zu viel wird, wenn man dabei ist, sich selbst zu vergessen. Und dieses Spiel ist am Anfang schwierig zu spielen. Entweder man schießt zu weit übers Ziel hinaus und verausgabt sich dann, ohne es zu merken – auch stimmlich allzu sehr, weil man in diesem Hochgefühl ist, so als stünde man unter Drogen. Oder es ist langweilig für einen selber, weil man zu kontrolliert agiert: ohne Risiko.

Wie lässt sich das rechte Maß für den Zuschauer ermessen?

Wenn jemand auf der Bühne wirklich weint, dann entsteht der Moment, wo man als Zuschauer abschaltet, wo man den Menschen hinter der Rolle sieht und sagt: Nein, das ist jetzt zu viel. Anders gesagt, es dürfen nicht 100 Prozent Emotion und Lust sein; 98 bis 99 Prozent aber schon, will sagen: ein gespieltes Echtes.

Was meint das konkret?

Die Figur muss einem selber und dem Publikum echt vorkommen. Und trotzdem weiß man tief im Innern, es ist doch nicht echt. Ich denke, das ist die Kunst dabei, gerade im Verismo. Es mag Musikstile geben, auch speziell gesangliche Richtungen, hinter denen ich mich verstecken kann, und in denen ich nur durch Schöngesang, durch gute Phrasierung und schöne Betonung, einfach durch braves Musizieren etwas erreichen kann. Bei den Arien von Cilea, Ponchielli, Leoncavallo, Giordano, Mascagni und Zandonai kann ich das nicht. Wenn ich da nicht Farbe und echte Gefühle hineinlege, muss ich das gar nicht erst machen.

Weil es kitschig wäre? Oder gar affirmativ?

Nein. Weil dann die Musik tot ist. Denn diese Musik lebt von dem Herzblut, das man in sie buchstäblich hineingießt.

Richard Wagners Lohengrin, den Sie in diesem Jahr in Bayreuth gesungen haben, berührt auf ganz andere Weise. Und doch ist es die gleiche Stimme, die das singt. Wie macht man das?

Bei Lohengrin will man keine Schluchzer hören, wie sie im Verismo Pflicht sind; ehrliche Gefühle indes schon. Und das kann man mit der gleichen Stimme mit gleichen Mitteln, mit den gleichen emotionalen Unterfütterungen genau so erreichen. Das klingt dann vielleicht nicht ganz so extrem. Aber es ist genau so berührend. Und das ist für mich das Entscheidende bei der Rollengestaltung: Dass man das Menschliche darin findet, dass man immer eine Interpretation mit Emotion untermalt, weil sie sonst blutleer und haltlos ist.

Musste da jetzt ausgerechnet ein deutscher Tenor kommen, um den Südländern José Cura, Roberto Alagna, Juan Diego Floréz und Rolando Villazon zu zeigen, wie es – ohne das große effektive Drama – wirklich geht? Glaubwürdiger? Mit der gleichen Inbrunst, aber mit weniger Sahne?

Ich weiß es nicht. Erstens ist das eine Mentalitätsfrage. Ein Südamerikaner und ein Italiener sind einem ganz anderen Druck ausgesetzt. Denn sie müssen das Klischee des schluchzenden Tenors weit mehr erfüllen, als ich das gezwungen bin zu tun. Das heißt: Die stehen unter Dauerstrom. Der Typ bin ich halt nicht.

Was für ein Typ sind Sie?

Ich habe einen inneren Ruhepunkt – trotz all der Gefühle, die ich mit großer Freude in das hineinlege, was ich mache, und obwohl ich glaube, dass ich ein sehr leidenschaftlicher Mensch bin. Ich bin unglaublich geerdet, ich spüre ein Mitte, ich habe einen Sinn im Leben gefunden – einen Sinn, der mehr ist als nur das Streben nach Erfolg. Mit einem Wort: Ich habe, wie es immer so schön heißt, meinen Platz im Hier und Jetzt gefunden. Und ich glaube, aus dieser inneren Ruhe heraus kann man diese ganze Kraft erst schöpfen. Und nur weil ich so stabil bin, kann ich auch mich so weit hinaus lehnen und diese ganzen Emotionen zeigen. Ich glaube auf der einen Seite, dass man wenige Europäer findet, die es sich zutrauen und sich auch leisten können, sich so zu öffnen, ohne dann gleich in der Depression zu verenden.

Sie sind also – bei allen wirklichen Gefühlen – auf der Bühne cool.

Nein. Aber ich mache mir keinen Druck, egal wie groß der angeblich auch sein mag. Ich genieße das Singen.

Ihre Technik erlaubt Ihnen diesbezüglich einiges, die Stimme sitzt derzeit sehr gut. Wie wichtig ist Instinkt?

Zunächst ist die Grundvoraussetzung, dass die Stimme funktioniert. Ohne das nützt der Instinkt gar nichts. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Zu Beginn meiner Laufbahn war ich nach ein paar Minuten Singen heiser, wenn ich versuchte, besonders viel auszudrücken. Das ging einfach nicht.

Warum?

Wenn man nur durch die Emotion die Stimme zum Arbeiten bringt, hat man keine Kontrolle über die Stimme. Wenn ich hingegen völlig rational, sozusagen „deutsch“ denkend, erst einmal eine Technik aufbaue und völlig emotionslos alles automatisiere, dann kann ich hergehen und sagen: Jetzt kümmere ich mich überhaupt nicht mehr ums Singen; jetzt kümmere ich mich nur noch um die Interpretation, um den Ausdruck – der Rest funktioniert ja dann automatisch. Und dann ist es wie Klavier spielen: Das Instrument ist fertig. Solange aber die Technik nicht funktioniert, ist mein Instrument, die Stimme, nicht fertig. Und oftmals hat man eben das Pech, dass man zu früh entdeckt wird und zu früh anfängt, Karriere zu machen, weil man wahnsinnig begabt ist. Aber weil das Instrument nicht solide genug gebaut ist, spielt man fast ausschließlich auf der Tastatur der Emotionen – und ruiniert seine Stimme.

Demnach müssten Sie mit großer Erleichterung an Ihre schwierige Zeit als Ensemblemitglied am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken denken. Denn dort ist Ihnen exakt das, was Sie gerade schildern, passiert.

Ja, das stimmt. Im Prinzip hat mir das unglaublich geholfen. Erst durch diese Krise habe ich begriffen, wie schnell das gehen kann, dass die Stimme kaputt geht. Dem Kollegen, der mich zu jener heiklen Zeit zu Michael Rhodes gebracht hat, bin ich ewig dankbar. Rhodes hat als mein Lehrer das Ruder herum gerissen – wobei bei mir das Problem anders gelagert war: Ich habe zu deutsch gesungen, zu vorsichtig, zu leicht, zu leise, zu weich, zu hell. Damit habe ich im Grunde gegen meine eigene Stimme gesungen. Denn die war schon damals dunkel und baritonal eingefärbt; so aber, wie ich sang, war es, als würde ich mit Handbremse Auto fahren. Und irgendwann hat die Stimme dann gesagt: Weißt du was, wenn du so weiter machst, lassen wir es lieber bleiben. Gott sei Dank war ich 25, als das passierte, und nicht 30 oder 40 Jahre. Je später die Krise kommt, umso schwieriger ist es, sich einzugestehen, dass da etwas falsch läuft.

Sie machen gerade eine Weltkarriere – mit allen Medieninszenierungen, die dazugehören. Sie spielen das Spiel mit und müssen trotzdem künstlerisch integer bleiben. Spüren Sie einen Hauch einer Gefahr, in diesem Strudel unterzugehen?

Unterzugehen? Nein, diese Gefahr spüre ich nicht.

Warum nicht?

Weil ich nicht mehr das Kind im Süßigkeitenladen bin. Ich bin 41, und das schützt mich davor, abzuheben. Weil ich zwei Dinge gelernt habe, die wichtig sind. Erstens: Ich bin nicht unverletzlich. Zweitens: Ich bin nicht unersetzlich. Wenn man diese zwei Sachen kapiert hat, wirklich kapiert hat, dann weiß man, was man zu tun hat und was nicht. Und dann reduziert man die Fehler. Ich habe beispielsweise, obwohl mir das sehr schwer gefallen ist, die beiden letzten Lohengrin-Vorstellungen in Bayreuth und einen Liederabend in Salzburg bei den Festspielen Ende August abgesagt, weil ich erkältet war.

Vor zehn Jahren hätten Sie gesungen, vor fünf auch noch.

Exakt. Und dann wäre das passiert, was jetzt nicht passieren kann. Die Stimme wäre angegriffen gewesen, mit nicht absehbaren Folgen für die nähere Zukunft.

Apropos Stimme und Angriff: Der Musikpublizist Jürgen Kesting, in Sachen Gesang einer der sachkundigsten Experten, hat Ihnen, bei aller Bewunderung für Ihre Stimme, eine gewisse Schwierigkeit im passagio (dem Übergang von Mittel- zu Kopfstimme, Red.) und in der voix mixte (Mittelstimme, eine klangliche Mischung zwischen Brust- und Kopfstimme, Red.) attestiert. Was sagen Sie dazu?

Darüber möchte ich gerne weiter mit ihm streiten. Einfach deswegen, weil ich der Meinung bin, dass er sich irrt. Schon bei meinem ersten Album „Romantic Arias“ hat er moniert, es sei in manchen Passagen reines Falsett, das ich benutze. Falsett bedeutet isolierte Kopfstimme, und isoliert bedeutet, dass ich den Ton nicht aufmachen kann, das heißt, ich kann ihn nicht zu einem runden, vollen, geerdeten, baritonal gestützten Ton machen. Ich garantiere aber, dass ich jeden Ton, den ich auf der Bühne und im Studio singe, genau so machen kann. Ich kann sogar bei einem hohen „C“ piano anfangen, aufmachen, lauter werden und wieder abschwellen bis hin zum piano.

Das können in solch schwindelerregender Höhe nicht viele Tenöre.

Und wissen Sie warum? Weil es unbeschreiblich schwer ist. Wenn man zu viel Gewicht, zu viel Kraft und vor allem zu viel Verspannung in das Crescendo hineinlegt, kommt man nicht mehr zurück. Aber das muss man können.

 






 
 
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