Crescendo, Juni/Juli/August 2009
Das Gespräch führte Teresa Pieschacón Raphael
Die Mühe darf man nicht sehen
Natürlichkeit als höchstes Ziel beim Singen.
Der Weltklasse-Tenor Jonas Kaufmann hat viel Zeit und Energie investiert, um zu seiner wirklichen Stimme zu finden.
crescendo: Was ist für Sie Arbeit?

Jonas Kaufmann: Interviews zum Beispiel (Lachen).
crescendo: Und Kunst?

Kaufmann: Das wunderbarste der Welt.

crescendo: Kunst ist schön … , sagt Karl Valentin …

Kaufmann: Macht aber viel Arbeit. Das sagt er auch. Den Begriff Arbeit kann man sehr weit fassen. Ein Lehrer fragte uns, wie lange wir uns täglich mit unserer Stimme beschäftigen. Eine Stunde, eineinhalb? Dachten wir. Doch er meinte, viel viel länger. Als Sänger wacht man morgens auf und der erste Gedanke ist: Wie geht es der Stimme? Die ersten Anzeichen einer Erkältung erfordern sofort Maßnahmen. Unbewusst beschäftigt man sich damit den ganzen Tag.

crescendo: Schon seit Ihrer Jugend?

Kaufmann: Ja. Ich habe immer gerne gesungen, mich zur Schau gestellt, Quatsch gemacht, das war meine Rolle. Doch erst ein langer mühsamer Weg voller Arbeit ließ mich zu meiner wirklichen Stimme finden.

crescendo: Inwiefern?

Kaufmann: Die große Schwierigkeit beim Singen ist: Es gibt keine ganz feste Technik, wir arbeiten mit Vorstellungen, unsere Muskeln können nur reflexartig reagieren und nicht bewusst angesteuert werden. Wir müssen uns Bilder, Situationen vorstellen, und dann die ideale Kehlkopfhaltung finden, aus der heraus wir diese gestalten können. Dabei kann viel schief gehen, wie zunächst bei mir. Anfänglich hatte ich null Tiefe, meine Stimme klang wie Micky Maus, ganz “kopfig” und mit ein bisschen “Edelknödel” im Hals, manchmal blieb mir auf der Bühne die Stimme selbst in kleinen Partien weg. Ich war erschöpft, falsch beraten, noch während meines ersten Engagements in Saarbrücken wusste ich, dass ich so nicht weiter machen kann.

crescendo: Warum die Quälerei? Wollten Sie nicht Mathematiker werden?

Kaufmann: Ich war fasziniert von Zahlen, fand die Suche nach der Formel, die einem den Weg weist, beglückend, dieses “jetzt geht alles auf”. Doch ich sah keine große Abwechslung, wusste, dass in der Mathematik alles immer gleichförmig und theoretisch bleiben würde. In der Musik aber fand ich Freiheit.

crescendo: Heute singen Sie auf allen Bühnen der Welt. Haben Sie die Singformel gefunden?

Kaufmann: Zum Glück lernte ich einen anderen Lehrer kennen. Er holte eine andere Stimme aus mir heraus: “Mach doch mal deinen Mund auf beim Singen! Lass deine Stimme heraus!” Ich sollte ein Selbstvertrauen zu meiner Stimme aufbauen - ohne etwas zu manipulieren, zu schieben oder zu drücken.

crescendo: Von Herakles heißt es, er habe seinen Musiklehrer Linos mit der Leier erschlagen.

Kaufmann: (Lachen) Ich will keinem Lehrer etwas vorwerfen, keiner kann in einen hineinsehen. Man empfahl mir, alles langsam, vorsichtig und leise zu machen, gemäß dem Motto: “Je mehr man sich schont, umso geringer die Gefahr, die Stimme kaputtzumachen.” Klingt logisch, doch wenn man den Motor auf nur einem Zylinder laufen lässt, und die anderen schont, dann geht der Motor kaputt. Amerikaner nennen das “undersinging”. Ich musste hart arbeiten.

crescendo: Kunst ist also auch 90 Prozent Transpiration und 10 Prozent Inspiration?

Kaufmann: Da ist etwas dran. Die Arbeit ist die Voraussetzung für jegliche Gestaltung und Ausübung der Kunst. Wenn das Fundament stimmt und die Technik verinnerlicht ist, dann erst kann ich mich bei der Interpretation der Inspiration hingeben. Es dauert sehr sehr lange, bis man so weit ist.

crescendo: Das Publikum liebt das Genie, die genialische Gebärde. Niemanden interessiert, wie mühselig das Ganze ist.

Kaufmann: Das stimmt, doch das Ziel ist auch: Die Mühe darf man nicht sehen. Das Kunstwerk lebt von der Leichtigkeit, der Selbstverständlichkeit, der Natürlichkeit. In dem Moment, wo es nach Arbeit aussieht, verliert es an Glanz und Glaubwürdigkeit, weil man dann den Menschen sieht, der dahinter steht. Das darf nicht sein. Ein Kollege schilderte mir “sein” Rezept. Er meinte, wenn das Publikum merke, wie schwer es sei und mit ihm leide, dann hätte er viel mehr Erfolg, als wenn er so singt, als sei es ein Spaziergang. Für mich ist das nichts.

crescendo: Das Publikum aber ist launisch, unfair, es belohnt den hochvirtuosen Effekt, der technisch oft einfacher zu vollführen ist als etwa die leise innig empfundene Phrase.

Kaufmann: Das stimmt. Man selbst kennt solche schweren Stellen sehr genau, man ahnt, wenn man sie verpatzt, dann merkt das vielleicht keiner, aber man selbst. Mir selbst zu beweisen, dass ich dies beherrsche, ist mir vielleicht noch wichtiger als die spontane Reaktion des Publikums.

crescendo: Die Physik definiert Arbeit als “Kraft x Weg”.

Kaufmann: So gesehen stimmt das sogar, obwohl das natürlich kein streng wissenschaftliches Argument ist. Aber man weiß, dass Musik und Mathematik gleiche Hirnregionen beschäftigen. Ohne Systematik geht in der Musik nichts.

crescendo: Was ist für Sie keine Arbeit?

Kaufmann: Auf der Bühne zu singen.

crescendo: Wird die Arbeit mehr oder weniger?

Kaufmann: Auf der Bühne zu stehen, wird immer schöner. Ich will vielseitig sein, und schaue, dass ich gleich viele deutsche, italienische, französische Partien im Repertoire habe. Neben einer Matinee bei den Salzburger Festspielen mit französischen, englischen und deutschen Liedern, trete ich im “Lohengrin” und der “Traviata” mit Angela Gheorghiu in München auf. 2010 mache ich “Carmen”, 2012 “Parsifal”. Mein Coach hilft mir dabei, sie ist das Ohr, das man selber nicht hat, weil man sich ganz anders hört. Der Pflichtteil, das Drumherum, aber ist sehr mühsam geworden, das ständige Reisen, den Kalender zu organisieren …

crescendo: Karl Valentin war nie zufrieden.

Kaufmann: Irgendwann kamen wir mit Lehrern ins Philosophieren, sprachen über Wunderlich, Prey und andere große Sänger. Am Ende fanden wir: Alles sei ein großer Kreislauf. Zunächst das Baby, das schreit ohne heiser zu werden, ohne darüber nachzudenken. Dann der Jugendliche, der unter der Dusche singt und spürt, dass mit der Stimme etwas passiert. Dann der erste Gesangslehrer, der alles erklärt. Jetzt wird alles bewusster und plötzlich geht überhaupt nichts mehr. Die Gesangstechnik so zu automatisieren, dass man wieder zu der Natürlichkeit des Babys gelangt, ist ein immerwährender Prozess, der nie aufhört.






 
 
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