Crescendo, 5. September 2014
Axel Brüggemann
 
Jonas Kaufmann: „Eigentlich das Gegenteil von Villazón…“
Jonas Kaufmann ist der wahrscheinlich erfolgreichste Tenor des Landes, doch unser Autor gehörte nicht unbedingt zu seinen größten Fans. Das hat sich geändert. Ein Porträt.
 
Dies ist die Geschichte, wie ich gelernt habe, Jonas Kaufmann zu mögen. Logisch, dass sie damit beginnt, dass es mir lange schwergefallen ist, diesen Tenor gut zu finden: ein unnahbarer Sänger, dessen Stimme uns nicht anspringt, sondern auffordert, in sie hineinzukriechen. Ein Star, der nicht trällert, „Schaut her, ich bin᾽s“, sondern sich lieber zurückzieht, nachdenkt, grübelt. Ein Zweifler, ein komplizierter Denker – keiner, der uns mit seiner Aura verführt. Ein Künstler, der von seiner Agentur abgeschottet und gleichzeitig perfekt promotet wird. Ein Unnahbarer. Einer, der mich kalt gelassen hat. Ich gebe zu, dass mir, der ich in den 80er-Jahren mit René Kollo und Plácido Domingo aufgewachsen bin, bis heute die eher großen, aufgekratzten Stimmen liegen, für die das Singen ein existenzielles Risiko bedeutet – ein Alles oder Nichts. Diese Formel-1-Tenöre, die mit 230 Sachen in die Kurve gehen, bei denen jeder Ton das Ende der Karriere bedeuten kann. Sie zeigen mir, dass die Oper existenziell ist.

Inzwischen habe ich allerdings auch begriffen, dass die kleine Geste unter dem Mikroskop betrachtet zum emotionalen Monstrum wachsen kann, dass die neurologisch gesungene Nuance ergreifender sein kann als das provokante Pathos – dass die größten Dramen sich eben im Inneren abspielen, dass die eigentlichen Wunden im Herzen bluten und nicht an der Haut. Jonas Kaufmann hat der Oper zurückgegeben, was ihr lange abgegangen ist: die kluge, sich dauernd selbst befragende Stimme, die nun auch Sänger wie Klaus Florian Vogt perfektionieren und die an unseren Stadttheatern längst zur neuen Mode erhoben wurde.

Zum ersten Mal aufhorchen ließ mich Kaufmann 2010, als er in Mailand den Don José in Bizets Carmen gab. Zufällig war ich in der Pause in der Garderobe von Daniel Barenboim, der den Abend dirigierte. „Und?“, fragte er seine Frau. Die antwortete: „Gut!“ Barenboim hakte nach: „Auch der Kaufmann, oder?“ – „Ein kluger Kopf auf jeden Fall“, erwiderte sie. „Eigentlich das Gegenteil von Villazón“, überlegte der Dirigent und nippte an seinem Wasser und überlegte weiter: „Villazón ist der leidenschaftliche Tenor, der Sänger, der über alle
Grenzen geht. Einer, der kein Morgen kennt. Kaufmann ist der Sparsame, der alles aus dem Kopf heraus macht.“ Nun brachte Barenboim seine Gedanken auf den Punkt: „Wenn Rolando Dionysos ist, dann ist Jonas Apollo. Der eine ist eher Bauch. Der andere ist eher Kopf.“ Ein bisschen hat es geklungen, als hätte er sich an diesem Abend eine Mischung aus beiden Tenor-Typen auf der Opernbühne gewünscht.

Vor einiger Zeit habe ich mich mit Kaufmann über das Phänomen der „klugen Stimme“ unterhalten, und ich habe ihn gefragt, ob er sich als Pionier fühlt: „Ich möchte mir das nicht auf die Fahne schreiben“, hat er geantwortet, „aber ich glaube schon, dass sich da vieles geändert hat: Die Stimmen, besonders bei Wagner, sind dynamischer geworden. Das Klischee, dass alles laut sein muss, existiert nicht mehr. Wenn man Menschen eine Partitur der beiden zeigt, staunen viele Bauklötze, dass da mindestens so viele Piani vorkommen wie Forte-Stellen. All das ist einige Zeit lang in Vergessenheit geraten, als es in der Oper oft nur auf die Dezibelzahl ankam und weniger auf den Inhalt.“

Tatsächlich schließt Kaufmann eine Tradition, die mit Wagners persönlichen Lieblings-Tenören Joseph Tichatschek und Ludwig Schnorr von Carolsfeld begonnen hat und die in den 40er-Jahren endete, als sich Lauritz Melchior, später Mario del Monaco und Peter Hofmann einen Wettstreit geliefert haben, wer den Längsten hat – den längsten Ton in Wagners „Wälsungen“-Rufen der Walküre. Ein Spiel, dem Kaufmann sich bewusst verweigert hat – so wie meine Ohren sich seinem Gesang.

Aber Kaufmann hat mit noch einer Krankheit unseres vermeintlich perfektionistischen Klassik-Marktes aufgeräumt, mit der Pest der Spezialisierung. Er ist ein leidenschaftlicher Allrounder und sagt zu Recht: „Ich befürchte, dass dieser Fetisch des Spezialistentums langfristig ungesund ist. Wir treiben die Kunst durch die Spezialisierung auf die Spitze: Dann soll es noch lauter, noch extravaganter, noch dramatischer sein – und das Eis wird immerdünner. Das ist weder gesund für den Sänger noch für die Details der Musik.“ Ist Kaufmann also der Pionier eines neuen Gesangsstils – die Stimme unseres Jahrzehnts? „Ich weiß gar nicht“, sagte er, „ob meine Stimme wirklich so aktuell oder modern ist. Es gibt an der Wiener Staatsoper einen wunderbaren Almanach, in dem man nachschlagen kann, was die einzelnen Künstler in den jeweiligen Spielzeiten so gemacht haben. Und da gibt es Fälle, die an einem Abend Pamina aus der Zauberflöte und am anderen die Brünnhilde aus der Götterdämmerung singen. Die Vielfalt ist zu Recht eine Tugend des Singens.“

Verstehen lässt sich die Karriere von Jonas Kaufmann nur, wenn man ganz von vorne beginnt. Denn eines seiner größten Geheimnisse ist die deutsche Stadttheater-Kultur, in der er aufgewachsen ist. Er ist einer der letzten Hochglanzsänger, die sich noch an Repertoire-Routine erinnern. Ein Superstar, der weiß, wie es sich anfühlt, wenn sich der Lappen in der Provinz jeden Abend heben muss. Kaufmanns Eltern waren musikalisch, haben den Sohn regelmäßig mit in Sinfoniekonzerte genommen. Seine Schwester spielte Klavier. Kaufmann ging in den Kinderchor. Nach der Schule hat er einige Semester lang Mathematik studiert, weil ihn das Logische fasziniert. Das hat sich bis heute nicht geändert. Aber irgendwann waren die Gefühle stärker, er wechselte an die Münchner Musikhochschule und von dort aus in sein erstes Engagement an das Staatstheater in Saarbrücken.

In Saarbrücken hat Kaufmann einen neuen Lehrer gesucht. Michael Rhodes wurde zu seiner wichtigsten Bezugsperson. Er hat dem Sänger beigebracht, sich zu entspannen. Er sollte lockerer werden. Sich nicht verausgaben, weniger Kraft und mehr Selbstverständlichkeit in den Ton legen. Sein Timbre veränderte sich, wurde natürlicher, tiefer und erzählerischer. Da hat es „Klick“ gemacht, und Jonas Kaufmann war in der Provinz immer seltener zu hören. Die Weltkarriere klopfte an die Stadttheatertür in Saarbrücken. Und eine ganz neue Opernstimme sang sich bis ganz nach oben.

Das Stadttheater ist für Kaufmann bis heute das Ideal für eine Gesangsausbildung. Er sagt: „Leider werden die Häuser in Deutschland immer weiter zurückgespart. Dabei haben sie so viele Vorteile: Nicht nur, dass sie jedem Menschen, auch in einer kleineren Stadt, die Möglichkeit geben, an der Faszination Oper teilzuhaben. Sie sind auch die besten Ausbildungsstätten. Gerade die eben angesprochene Rollenvielfalt sorgte ja dafür, dass die großen Aufführungen auf mehrere Schultern verteilt waren. Ich glaube, dass wir dort wieder hinsollten, die Vielfalt ist ein Garant für gesunde Stimmen.“

Unter den aktuellen Tenören ist Kaufmann sicherlich der vielseitigste: Mozart, Verdi und Wagner haben den Münchener in New York, Wien und Tokio zum Welttenor gemacht, wie es ihn seit den Drei Tenören nicht mehr gab, und Kaufmann frisst immer neues Repertoire. „Für mich ist es wichtig, immer wieder neue Formen der Musik auszuprobieren“, sagt er, „so wie nun mit meinem Album ‚Du bist die Welt für mich’ mit Liedern der 20er- und 30er-Jahre.“ Diese Aufnahme wird viele zum Kaufmann-Fan machen. Plötzlich wird aus dem Entrückten, dem Ton-Psychologen Kaufmann der Lässige. Da sind seine Ritardandi in Gern hab ich die Frau’n geküsst oder Heute Nacht oder nie, da ist die beschwingt lockere Peter-Alexander-Stimme in Diwanpüppchen, und dann eben immer wieder ein bisschen Fritz-Wunderlich-Knallertum in Du bist die Welt für mich und Dein ist mein ganzes Herz. Und natürlich die ganz große Oper in Glück, das mir verblieb aus Korngolds Die tote Stadt. Kaufmann zeigt, dass die Gassenhauer der 30er-Jahre eben nicht unbedingt von Max Raabe sein müssen, sondern dass auch die Operette eine Coolness hat, dass es einen Unterschied macht, ob die Comedian Harmonists oder Richard Tauber, dessen legitimes Erbe er mit diesem Album angetreten hat, diese Stücke interpretieren. Kaufmann gelingt die Quadratur des Unterhaltungskreises: Er findet in diesen Schlagern Tiefe, ohne dabei die Leichtigkeit zu verlieren. Die neue CD ist bis ins kleinste Detail durchgestylt. Im Trailer kämpft Kaufmann in bislang ungesehener Lockerheit mit dem 30er-Jahre-Mikrofon. Was er über die Lippen bringt, ist schlichtweg: genial.

Inzwischen gönnt Kaufmann sich hin und wieder eine Pause von der Öffentlichkeit, sein privates Leben hält er weitgehend aus den Zeitungen. Anders als viele Kollegen, die immer wieder mit ihrer Stimme kämpfen, scheint Jonas Kaufmann inzwischen zu laufen wie ein deutscher VW-Käfer. Er singt und singt und singt. Einer seiner Tricks sind regelmäßige Entspannungsübungen. Vor den Auftritten macht er Yoga, um den Brustkorb zu öffnen. Und mit Blick auf andere Tenöre erklärt er, dass die Angst der größte Feind der Stimme sei. Er hat sich Taktiken zurechtgelegt, um der Erfolgsfalle zu entkommen und nicht am Opernhimmel zu verglühen. Er schützt sich, indem er die ständig steigenden Erwartungen nicht unbedingt erfüllen will. Er fürchtet sich nicht, wenn ein falscher Ton schon wenige Stunden später auf Youtube in der ganzen Welt zu hören ist. „Die Öffentlichkeit hat sich gewandelt“, sagt Kaufmann, „heute sieht jeder alles – ein Blick ins Netz reicht.“ Sein Rezept ist es, entspannt zu bleiben. „Ich habe mir angewöhnt, positive Erfahrungen nicht als Druck zu verstehen, sondern sie als Teil meiner Zufriedenheit zu begreifen.“

Mit seinem Wagner-Album im vergangenen Jahr hatte Jonas Kaufmann neue Standards gesetzt, mit dem neuen Album der 30er-Jahre scheint er sich aus seinem Käfig befreit zu haben – er kann auch swingen. Die Selbstbefragung ist auf der Zielgeraden angekommen. Man hört sie nicht mehr in seiner Stimme: Alles ist selbstverständlich, echt und wahrhaftig. Und ich leiste hiermit Abbitte: Jonas Kaufmann in den letzten sechs Jahren auf seinem Weg begleitet zu haben, hat meinen Blick auf den Gesang verändert. Es war ein Kampf mit mir selbst – und eine Offenbarung. Manchmal brauche ich noch eine Prise Kollo oder eine Arie aus den frühen Villazón-Aufnahmen – der Rest ist: denkendes Singen. Danke, Jonas Kaufmann.














 
 
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