Festspiele Magazin, 2012
Axel Brüggemann
 
Der Opern Apoll
Jonas Kaufmann ist ganz oben angekommen: Liederabende, psychologische Operncharaktere und Stadthallen-Konzerte. Ein vorsichtiger Sängertyp, für den nichts wichtiger ist als seine Stimme. Deshalb verzichtet er auch schon mal aufs Händeschütteln. Eine Annäherung

Don José hat sich den Schmugglern angeschlossen, Daniel Barenboim wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht, der Vorhang fällt. Applaus aus den Rängen: Der Dirigent verlässt den Orchestergraben, eilt durch die Katakomben der Mailänder Scala und wirft sich auf das Sofa in seiner Garderobe.
Seine Frau Jelena Baschkirowa reicht ihrem Mann Wasser. Barenboim liebt es, in den Opern- und Konzertpausen Menschen zu empfangen. Er mag es, ein wenig zu plaudern, herunterzukommen, sich abzulenken, bevor sich der Vorhang wieder hebt und Don José zum Mörder wird.

„Und?" fragt er. „Gut!" antwortet seine Frau. „Der Kaufmann - auch ein Guter, oder?" fragt Barenboim. „Ein Kluger auf jeden Fall", sagt sie.„Eigentlich das Gegenteil vom Villazón", überlegt der Dirigent, nippt am Wasser und macht eine Pause. Dann sagt er: „Villazón ist der leidenschaftliche Tenor, der Sänger, der über alle Grenzen geht. Einer, der kein Morgen kennt. Kaufmann ist der Sparsame, der alles aus dem Kopf heraus macht." Dann bringt Barenboim seine Gedanken auf den Punkt:„Wenn Rolando Dionysos ist, dann ist Jonas Apollo. Der eine ist ganz Bauch. Der andere ist ganz Kopf" Und ein bisschen klingt es so, als würde Daniel Barenboim sich endlich mal eine Mischung aus beiden Tenor-Typen auf der Opernbühne wünschen.

Dieses ist die Geschichte über einen Sänger, der anders ist als alle anderen. Über einen Tenor, an dem sich die Geister scheiden. Über einen Menschen, der tickt wie seine Stimme: zuweilen manieriert und verkopft, hin und wieder kontrolliert emotional - und in der Regel verblüffend genial. Er ist weder Fisch noch Fleisch, dafür stets Geist. Dieses ist die Geschichte über Jonas Kaufmann - einen Sänger, den man erst beim zweiten Hören heben lernt. Über einen Menschen, der sich am wohlsten fühlt, wenn er seine Gefühle unter Kontrolle hat. Es ist eine merkwürdige Geschichte.

Verstehen lässt sich die Karriere von Jonas Kaufmann nur, wenn man ganz von vorne beginnt. Denn eines seiner größten Geheimnisse ist die deutsche StadttheaterKultur, in der er aufgewachsen ist. Er ist einer der letzten Hochglanzsänger, die sich noch an Repertoire-Routine erinnern. Ein Superstar, der weiß,wie es sich anfühlt,wenn sich der Lappen in der Provinz jeden Abend heben muss. Kaufmanns Eltern waren musikalisch, haben den Sohn regelmäßig mit in Sinfoniekonzerte genommen. Seine Schwester spielte Klavier. Jonas ging in den Kinderchor.

Nach der Schule hat er einige Semester lang Mathematik studiert, weil ihn das Logische fasziniert. Das hat sich bis heute nicht geändert. Aber irgendwann waren die Gefühle stärker, er wechselte an die Münchner Musikhochschule und von dort aus in sein erstes Engagement an das Staatstheater in Saarbrücken.

Wenn man heute mit Kaufmanns alten Kollegen redet, erzählen sie gern die Geschichte vom „Tenor mit dem gelben Zettel". Kaufmann, sagen sie, ließ sich oft krankschreiben. Er selbst versteht den Opernalltag am Stadttheater bis heute als harte Schule. Der Übergang vom geschützten Raum des Studiums in den Opernalltag sei ihm damals schwer gefallen, gibt er zu, die körperliche Beanspruchung habe ihn an seine Grenzen getrieben. Und so hat er schon damals beschlossen, ein ganz neues Verhältnis zu seiner Stimme aufzubauen.

In Saarbrücken hat Kaufmann einen neuen Lehrer gesucht. Michael Rhodes wurde zu seiner wichtigsten Bezugsperson. Er hat dem Sänger beigebracht, sich zu entspannen. Er sollte lockerer werden. Sich nicht verausgaben, weniger Kraft und mehr Selbstverständlichkeit in den Ton legen. Sein Timbre veränderte sich, wurde natürlicher, tiefer und erzählerischer. Da hat es „Klick" gemacht, und Jonas Kaufmann war in der Provinz immer seltener zu hören. Die Weltkarriere klopfte an die Stadttheatertür in Saarbrücken. Und eine ganz neue Opernstimme sang sich bis ganz nach oben.

An der Mailänder Scala läuft inzwischen der vierte Akt. Carmen wirft Don José den Ring vor die Füße. Jonas Kaufmann rastet dabei nicht aus, verliert nicht die Kontrolle. Selbst wenn er das Messer zückt, um Carmen zu ermorden, klingt seine Stimme beherrscht. Er sticht nicht im Fortissimo-Gegröle zu, stellt keine Tenor-Potenz zur Schau. Stattdessen macht sich Verzweiflung in seinem Timbre breit - so, als würde Don Josés gesamte Psyche sich offenbaren. Eine männliche Wahnsinns-arie: Mal stimmt er bewusst einen Flageolett Ton an, dann wechselt er wieder in messa di voce, dann haucht er eine Piano-Spitze fast ohne Ton hin. Jonas Kaufmann haut sein Publikum nicht aus dem Sessel, sondern lässt es lieber in Gänsehaut erstarren. Seine Stimme ist in diesen Momenten so scharf wie ein Dosenöffner für das Gehirn seiner Charaktere. Er liebt es, ihre seelische Zerrissenheit auszustellen und seine Helden mit dem Seziermesser auseinanderzunehmen -Schicht um Schicht, Millimeter um Millimeter. Bei Kaufmann geht nichts im Tschingderassabum unter. Fast jede Note, die seinen Hals verlässt, ist einmal durch den Kopf gekreist. Der Tenor hat sie befragt und sie zur Antwort modelliert. Vielleicht hören sich einige Töne deshalb etwas müde an, wenn sie auf die Bühne kommen - erschöpft von der inneren Inquisition. Aber so stellt Kaufmann sicher, dass er keine Note ohne Bedeutung singt. Zugegeben: Manchmal nervt diese dauernde Klugheit. Vor allen Dingen, wenn man von der Oper Wagemut und Grenzgänge erwartet. Wenn man von Tenören erhofft, was man auch von Formel- l-Fahrern erwartet: ein Spiel um Leben und Tod. Jedes hohe C eine gefährliche Kurve. Aber Jonas Kaufmann macht bei solchen Spielen nicht mit. Er hat seine Stimme immer unter Kontrolle.

Dabei öffnen seine Rollenstudien neue Horizonte. Plötzlich entdecken wir Charaktereigenschaften an Bizets, Verdis oder Wagners Opernhelden, die wir nicht einmal erahnt hatten. Nicht selten stellt Kaufmann Klischees bewusst auf den Kopf. Bei seinem BayreuthDebüt mit Lohengrin hat er unter der Regie von Hans Neuenfels keinen Gralsritter vorgestellt, sondern einen introvertierten Liebhaber, der Angst hat, sein Heiligtum zu verlassen. Im irdischen Regelwerk von Liebe und Intrige findet er sich nicht zurecht. Dieser Lohengrin ist kein Weltenretter, sondern ein Mann, der sein Herz auf offener Bühne verliert. Der Held als Versager.

„Ich entdecke bei Jonas Dinge, die ich nicht für möglich gehalten habe", sagte Daniel Barenboim nach der Premiere in Mailand. Aber der Tenor gibt sich mit derartigen Lobhudeleien nicht zufrieden. Er hat seinem Don José inzwischen weitere Dimensionen gegeben - sie waren diesen Frühling bei den Salzburger Osterfestspielen zu hören.

Der junge Sänger aus Saarbrücken, der seine Rolle im Opernzirkus erst suchen musste, ist längst Vergangenheit. 2007 hat Jonas Kaufmann einen Exklusivvertrag bei Decca unterschrieben. Seither singt er in der Champions League: Stadthallen-Konzerte mit Anna Netrebko und Erwin Schrott, allerhand Pressetermine, und nebenbei ist er auch noch Modebotschafter von Strenesse, dem Label, für das auch Deutschlands Fußballtrainer Joachim Löw wirbt. Selbst hier hat Kaufmann Ambitionen. Während es schon lange ein Löw-Hemd gab, hat der Tenor die Kaufmann-Fliege eingeführt. Er scheint Spaß an diesem Brimborium zu haben.

Nur manchmal geht ihm der Rummel auf den Keks. Wenn er sich zurückziehen will. Wenn er mit der Familie wandert, wenn er durch München bummelt - wenn er einmal allein sein möchte. Neulich hat ihm ein Fan nach einer Aufführung Fotos geschenkt, auf denen der Tenor mit seinen Kindern beim Wandern zu sehen ist. Kaufmann hat damals nicht gemerkt, dass er fotografiert wurde. Und ihm schauderte bei diesem Geschenk. Sicherlich ist man als Klassikstar kein Popstar. Aber für manche Fans gilt ein Starschnitt mit Jonas Kaufmann durchaus als Fortsetzung des Bravo-Posters in einem anderen Genre.

Inzwischen gönnt Kaufmann sich hin und wieder eine Pause von der Öffentlichkeit. Wenn es ihm zu viel wird. Oder, wenn er seine Stimme in Gefahr sieht. In den Wintermonaten, wenn die Grippe grassiert, kommt er nach einer Vorstellung nur noch selten zum Künstlereingang, um Autogramme zu schreiben. Er befürchtet, sich durch das Händeschütteln einen Virus einzufangen.

Trotzdem ist er überall präsent: auf Werbepostern und im Fernsehen. Neulich war er zu Gast bei Thomas Gottschalk. Richtig locker ist er in solchen Situationen nie. Man merkt, dass er immer etwas will: Das Publikum von der Kraft der Oper überzeugen. Dafür spielt er den lockeren Sänger, aber irgendwann beginnt er zu argumentieren. Mit der großen Kunst, dem Wert des Denkens und dem philosophischen Genuss. Jonas Kaufmann ist ein ernster Mensch. Das kann er nicht verbergen. Auch nicht bei Thomas Gottschalk. Und das will er auch gar nicht.

Kaum ein Tenor ist so fit wie er. Kaufmann läuft wie ein deutscher VW-Käfer. Er singt und singt und singt. Einer seiner Tricks sind regelmäßige Entspannungsübungen. Vor den Auftritten macht er Yoga, um den Brustkorb zu öffnen. Und mit Blick auf andere Tenöre erklärt er, dass die Angst der größte Feind der Stimme sei. Er hat sich Taktiken zurechtgelegt, um der Erfolgsfalle zu entkommen und nicht am Opernhimmel zu verglühen. Er schützt sich, indem er die ständig steigenden Erwartungen nicht unbedingt erfüllen will. Er fürchtet sich nicht, wenn ein falscher Ton schon wenige Stunden später auf Youtube in der ganzen Welt zu hören ist.,,Die Öffentlichkeit hat sich gewandelt", sagt Kaufmann, "heute sieht jeder alles - ein Blick ins Netz reicht." Sein Rezept ist es, entspannt zu bleiben. „Ich habe mir angewöhnt, positive Erfahrungen nicht als Druck zu verstehen, sondern sie als Teil meiner Zufriedenheit zu begreifen."

Inzwischen sitzt der Tenor auf dem Flughafen in Berlin Tegel in einem Starbucks. Er trägt ein buntes T-Shirt, über seinen Schultern hängt ein roter Pulli, dazu Jeans und teure Lederschuhe. Kaufmann trinkt Tee. Denn in Sachen Kaffee ist er wählerisch. Zuhause hat er seine eigene, spezielle Kaffeemischung aus italienischer Röstung. Gekocht wird nur mit einer Siebträgermaschine mit Kolbendruck. Wenn es die nicht gibt, trinkt er lieber Tee.
Der Tenor hat bereits eingecheckt. Er ist auf der Flugbahn im Opern Jetset: Die MET in New York, die Staatsoper in Wien, das Theater in München.,,Wenn ich meine Karriere von einem Ort aus machen könnte, würde ich das sofort tun", sagt er. „Auf dem Papier hört sich das alles gut an - die vielen Städte. In Wirklichkeit schließe ich mich aber manchmal einen ganzen Tag im Hotelzimmer ein. Besonders, wenn ich merke, dass eine Erkältung im Anmarsch ist. Dann sitze ich da, trinke Tee und warte auf den Auftritt."

Kaufmann ist nicht müde vom Reisen, aber Illusionen von Sightseeing macht er sich keine mehr. Er ist ein Hochleistungssportler. Seine Stimme ist ihm wichtiger als das Museum of Modern Art und der Louvre. „Wenn man ehrlich ist, sehen wir Sänger oft nicht mehr von einer Stadt als den Flughafen, die Limousine, das Hotelzimmer und die Bühne." Auf Reisen vermisst er seine Kinder, seine Bibliothek, seine Musik. Er hat ein iPad dabei, um sich auf dem Laufenden zu halten. Aber die Gemütlichkeit der eigenen vier Wände kann es nicht ersetzen", sagt Kaufmann. Für das Gefühl von zu Hause gibt es noch keine App.

Kaufmann hat inzwischen eine Leerstelle im Klassikzirkus gefüllt, die Rolando Villazon gerissen hat. Der dionysische Mexikaner hat seine Stimme der Wahrhaftigkeit der Oper geopfert. Jonas Kaufmann hat seine Marketingstrategien übernommen, denkt aber gar nicht daran, sich ebenfalls auf dem Altar der Oper opfern zu lassen. Er bemüht sich, nicht mehr als 80 Aufführungen im Jahr zu singen, kennt das Wort "Nein" - und benutzt es auch. Notfalls zieht er mitten in einer Aufführung leicht an der Handbremse. Der Welt verriet er einmal: „Ich beherrsche meine Stimme inzwischen vollkommen. Sie gehorcht mir, ich weiß um ihre Stärken und Schwächen, kann mit meiner Tagesverfassung hervorragend umgehen. Und ich singe immer so, dass ich nicht müde werde. Ich will das Ende einer Vorstellung so erleben, dass ich genügend Reserven habe, noch einmal von vorn anfangen zu können. Nur das ist gesund. Dann singe ich mit den Zinsen meiner Stimme und nicht mit dem Kapital." Ja, Jonas Kaufmann ist auch ein bisschen ein Anlageberater der Töne. Und der Stabwechsel von Villazón zu ihm ist ein bisschen so, als würde Derrick die Tatort-Rolle von Schimanski übernehmen.

Inzwischen ist Jonas Kaufmann 42 Jahre alt und hat eine ganz eigene Technik gefunden, um die komplexen Tenor-Partien unbeschadet zu überstehen.,,Mein großes Vorbild ist Fritz Wunderlich", sagt er, „auch weil er bewiesen hat, wie groß das Repertoire eines Sängers sein kann." Kaufmann schert sich nicht um die Grenzen der Genres, Abwechslung ist Balsam für seine Stimme. Er tritt in Opern von Mozart, Gounod, Bizet und Wagner auf, ist mal lyrisch, dann wieder heldisch, mal singt er französisch melodisch, dann kraftraubend deutsch und später wieder lyrisch italienisch. Nebenbei füllt er Stadthallen mit Galas. Um sich auszuruhen und zu den Wurzeln der Stimme zurückzukehren, gibt er regelmäßig Liederabende mit Helmut Deutsch. Klar, dass auch diese Veranstaltungen ausgebucht sind und er seine Fans mit Liszt-, Strauss- und Mahler-Miniaturen herausfordert.

Kein Tenor ist so vielseitig wie Jonas Kaufmann. Die einen sagen, er sei alles, die anderen, dass nichts richtig sei. Aber es scheint, als würde sich das unterschiedliche Repertoire bei ihm ergänzen, seine Stimme weiter reifen lassen. Seit er auch Wagner singt, ist sein Ton noch einmal tiefer geworden - aber dieses Mehr an Männlichkeit steht ihm gut.

Die großen Opernhäuser und die Sommerfestspiele kämpfen um die wenigen Kaufmann Termine. Nach Bayreuth hat heuer Salzburg das Rennen gemacht. Jonas Kaufmann, der von Daniel Barenboim ernannte Apoll der Oper, tritt ausgerechnet als Bacchus in Ariadne auf Naxos auf- als Strauss' Verkörperung des Dionysus. Eine Tenor-Herausforderung, bei der man gespannt sein darf, welche Seelenwindungen Kaufmann beim Gott des Weines und der Leidenschaft aufstöbern wird.

Alexander Pereira hat bereits angekündigt, ihn auch in Zukunft an die Salzach zu binden. Der Tenor erklärt indes diplomatisch, dass das „Kapitel Bayreuth" für ihn auch noch nicht abgeschlossen sei. Dort feiert man derzeit allerdings schon einen anderen Tenor: Kaus Florian Vogt. Früher, als die beiden am Anfang ihrer Karrieren standen, hat Vogt Jonas Kaufman noch in einer konzertanten Fidelio-Aufführung gecovert. Nun erobert die Generation Stadttheater die Weltbühne.






 
 
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