Der Neue Merker
Dr. Ingobert Waltenberger
 
JONAS KAUFMANN singt die WINTERREISE
Blutende Blumen in Eis und Schnee
 
Vom ersten Ton an besteht kein Zweifel, wohin die Reise geht. Sergiu Celibidache hat viel darüber geschrieben über das Zen-buddhistische Ende im Anfang, Kaufmann lässt es uns hören. Radikal schonungslos und doch mit unglaublichem Einfühlungsvermögen zeichnen Jonas Kaufmann und sein kongenialer Begleiter Helmut Deutsch diese 24 erschütternden Blütenblätter des Todes bzw. der vollkommenen Auflösung einer zutiefst verletzten Seele. Der wohl genialste und düsterste Liedzyklus der Musikgeschichte, Schuberts Introspektion eines im Liebesunglück gefangenen Wanderers in kalter Landschaft, erfährt in Kaufmanns eindringlicher Interpretation eine neue wichtige Wegmarke in der Rezeptionsgeschichte auf Tonträgern. Kaufmann reiht sich lückenlos in eine äußerst expressionistische Lesart à la Lotte Lehmann, dem späten Fischer-Dieskau, Peter Pears oder Brigitte Fassbaender.

Die Aufnahme kommt zur rechten Zeit in der Karriere des großen deutschen Tenors. Die klangliche Farbpalette seiner edel timbrierten Stimme ist jetzt überreich an Schattierungen, feinen agogischen Abstufungen und zärtlicher Hingabe. Selbst Momente des wüsten Aufbegehrens tragen selbst noch im heftigsten vokalen Ausbruch trauernde Resignation in sich. Wie in den Symphonien Anton Bruckners bauen Kaufmann und Deutsch in dieser Winterreise eine ungeheure Spannung auf, schaffen eine Sog des nie und nimmer Zurück, stürzen plötzlich ins Nichts, um sofort ihre musikalische Fährte aufzunehmen, bis hin zum letzten Verklingen im „Leiermann“.

Jonas Kaufmann lässt uns 24 mal Zeuge werden, wie höchste Differenzierungskunst dem Schubertschen Liedgesang neue und unerhörte Nuancen abgewinnen kann. Ob der traumwandlerisch einfühlsame „Frühlingstraum“, die üppig ausladend mit großem Ton vorgetragene „Post“ oder das impressionistische Stimmungsbild der entfesselten Naturelemente im „Stürmischen Morgen“, die Handschrift und der große Bogen sind immer da. Im Lied „Einsamkeit“ ist selbst der Tristan schon ahn- und hörbar. In „Täuschung“ spricht einer zu sich selbst in einer Welt, die keinen Dialog, kein Gespräch mehr zulässt, wo auch keiner mehr zuhört: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“. Diese Unumkehrbarkeit menschlichen Handelns ist letztlich das Tragische an der Winterreise. Die Einkehr am Totenacker untermalt Helmut Deutsch auf seinem Steinway mit klarem Glockenklang, die Töne rinnen wie ein leiser Tränenregen ins Ohr des Zuhörers. Kaufmann und Deutsch haben zu einer künstlerischen Symbiose gefunden, die mit dieser Zusammenarbeit die bisher wohl schönste Frucht trägt.

Je öfter ich die Winterreise höre, desto faszinierender werden auch die Texte von Wilhelm Müller, die in ihrer scheinbaren Einfachheit die zunehmenden Wahnbilder auf dem letzten Weg des Wanderes wie Goya‘sche Miniaturen hinpinseln. Höchste Kunst durch größte Einfachheit, Kargheit im Fatum, der Kreis schließt sich im Unausweichlichen. Und all das lässt Kaufmann Ton werden, mutig in den Dienste des Ausdrucks und der Interpretation gestellt. Nichts ist kalkuliert, alles Risiko. Ein künstlerisches Abenteuer auf Basis einer unfehlbaren musikalischen Präzision und schlafwandlerischen Gesangstechnik. Da die Tessitura der Winterreise wesentlich tiefer liegt als etwa der Müllerin, herrscht auch ein dunkler, baritonaler Duktus vor. Der große Opernton wird nur in zornig-aufwallenden Ausnahmesituationen wie der „Wetterfahne“ eingesetzt. Und hier spiegelt das kupferfarbene Metall in Kaufmanns Stimme Momente der Ungläubigkeit, des beinahe naiv unschuldigen Unverstehens, was das Schicksal will. In diesem Sinne ist für mich „Auf dem Flusse“ einer der absoluten Höhepunkte der Aufnahme. Ein verletztes Tier irrlichtert in glühenden Tränen in einem imaginierten Raum. Da kann man auch erfahren, wo die Grenzen des Denkens liegen, was in und mit der Musik gedacht werden kann und was nicht. Als Kritiker ergänze ich, was beschrieben werden kann oder nicht. Und so möchte ich abschließend Brecht/ Reich-Ranicki zitieren: „Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Jonas Kaufmann hat in einem Interview einmal gesagt: „Die schönste Rückmeldung für einen Sänger ist es, wenn das Publikum gebannt zuhört und sich nicht zu bewegen traut oder wenn es nach einer Liedgruppe einen Moment lang still bleibt.“ Mir ist es so beim Anhören der auch klangtechnisch hervorragenden CD gegangen. Auf dem Plattencover ist angemerkt „Wenn es für einen Liedsänger so etwas wie eine Feuerprobe gibt, dann ist es sicherlich die Winterreise von Franz Schubert. Die hat Jonas Kaufmann mit dieser Aufnahme sicherlich vortrefflich bestanden. In meinem Plattenregal bekommt diese Aufnahme auf jeden Fall einen Ehrenplatz neben der ebenso atemberaubenden Interpretation von Lotte Lehmann.

Die Aufnahme wird ab 14. Februar im Handel erhältlich sein. Ab März werden Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch eine Tournee mit der Winterreise absolvieren, die sie nach Barcelona (28.3.), Genf (30.3.), Berlin (1.4.), Graz (4.4.), London (6.4.), Paris (8.4.), Prag (10.4.), Moskau (12.4.) und Mailand (14.4.) führen wird.






 
 
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