Klassik.com, 21. November 2010
Prof. Dr. Michael Bordt
 
Verismo pur
 

Jonas Kaufmann singt: Verismo Arias

Nein, man wird Jonas Kaufmann nicht vorwerfen können, er habe es sich leicht gemacht. ‚Verismo Arias’ heißt seine neuste Einspielung, aber wer dahinter eine Sammlung der größten Hits dieser Operngattung vermutet, wird nicht bestätigt. Zwar fehlen Klassiker des Genres nicht, etwa Ruggero Leoncavallos 'Recitar! […] Vesti la Giubba' aus 'Pagliacci' oder zwei Szenen aus Pietro Mascagnis 'Cavalleria rusticana'. Aber wer kennt schon Mascagnis 'Iris', Leoncavallos 'La Bohème', den Komponisten Licinio Refice oder Riccardo Zandonais Oper 'Giuletta e Romeo'? Kaufmanns Auswahl überzeugt, sie zeigt die Affinität des Verismo zur französischen Oper und gibt einen repräsentativen Querschnitt durch das italienische Verismo-Repertoire des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Noch in einer zweiten Hinsicht hat Kaufmann es sich und seinen Hörern nicht leicht gemacht: Über eine Stunde lang hoch emotionale, oft aufgeputschte und elektrisierende Musik auf einer CD zu vereinen, ist ein Risiko. Auch dann, wenn die Stücke klug gewählt sind, Kaufmann im letzten Drittel der Aufnahme unter anderen mit zwei Arien aus 'Adriana Lecouvreur' auch deutlich ruhigere Töne anschlägt, bei denen er sein tragfähiges Piano ausspielen kann, und am Ende der CD das Schlussduett aus Giordanos 'Andrea Chénier' mit Eva-Maria Westbroek eingespielt wurde, nutzt sich der emotionale Effekt der Arien auf Dauer doch ein wenig ab. Das liegt auch daran, dass Kaufmann die Rollen, die er gestaltet, recht einheitlich interpretiert und den einzelnen Gestalten wenig individuellen Charakter gibt. Eine Partie klingt leicht so wie die nächste – eben nach Jonas Kaufmann.

Jonas Kaufmanns charakteristische Stimme, seine dunkle, baritonale Färbung, die, auch in der Formung der Vokale, ein wenig an Placido Domingo erinnert, und zu enorm starken, tragenden Höhen und Ausbrüchen fähig ist, ist oft beschrieben worden. Die Breite seines Repertoires – von Schubert über Wagner bis hin zum französischen und nun italienischen Repertoire – ist beeindruckend. Mit der vorliegenden Aufnahme beansprucht Kaufmann, in einer Reihe mit den großen Tenören des italienischen Repertoires zu stehen. Aber so ganz gelingen ihm die hohen Aufgaben nicht. Einige Passagen klingen, anders als bei Mario de Monaco oder di Stefano – um nur zwei zu nennen –, deutlich zu gepresst (so beispielsweise das Trinklied aus Mascagnis 'Cavalleria rusticana'), manches klingt gedrückt und angestrengt. Man kann zwar einwenden, dass diese Anstrengung in den meisten Fällen tatsächlich dem Ausdruck der Musik dient, denn natürlich drücken die Texte und die Musik angestrengte und anstrengende Extremsituationen menschlicher Existenz aus. Aber manchmal wirkt die hörbare Anstrengung leicht fehl am Platz, wie beispielsweise in Fausts Arie 'Giunto sul passo estremo' oder der Schluss von 'La dolcissima effigie' aus Francesco Cileas 'Adriana Lecouvreur'. Wohltuend ist, dass Kaufmann wenig auf äußere Effekte wie übertriebene Schluchzer oder das Ankicken der Töne setzt – der emotionale Ausdruck ergibt sich aus der sorgfältig überlegten Melodiegestaltung. Begleitet wird er einfühlsam von dem Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano. Leider bleibt das Orchester aufnahmetechnisch manchmal allzu stark im Hintergrund. Kurz: Eine Aufnahme, die man gern hört, aber vielleicht eher häppchenweise genießen sollte.






 
 
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