Opernwelt, November 2010
Jürgen Kesting
 
Verismo Arias
 
Wie unlängst Renée Fleming legt nun auch Jonas Kaufmann eine Sammlung mit «Verismo Arias» vor. Dabei verzichtet er, stilgeschichtlich zu Recht, auf die Musik Puccinis, die sich nicht dem «Verismo» zuordnen lässt und konzentriert sich auf Komponisten wie Ruggero Leoncavallo, Francesco Cilea, Pietro Mascagni, Umberto Giordano und Amilcare Ponchielli, auch auf Außenseiter wie Riccardo Zandonai und Licinio Refice.

Anders als die amerikanische Sopranistin, welche die Unmittelbarkeit des Affektausdrucks zugunsten der stilisierten oder sublimierten Pose zurückdrängt und den Camp-Geschmack mit erlesen-gestrigen Diva-Gesten beschenkt, zeigt Kaufmann viel Bereitschaft, sich den «hohen Künsten der Leidenschaft» hinzugeben. Die Pflichtaufgabe – das Studium der Aufnahmen großer Vertreter der maniera verista – hat er offenbar erfüllt. Und er ist nicht der Gefahr erlegen, den «Singhiozzo»-Stil von Sängern wie Pertile, Gigli oder del Monaco mit seinen vernutzten naturalistischen Affektlauten nachzuahmen. Wenn er gelegentlich doch einen gleichsam implodierenden Seufzer andeutet, wirkt dies spontan, überzeugend und glutvoll.

Insgesamt erweckt sein Vortrag den Eindruck, dass er, paradox formuliert, um einen Verismo-Belcanto bemüht ist: um Smorzando-Phrasen imLamento des Federico aus «Adriana Lecouvreur» oder in den kurzen Solos des Loris aus «Fedora» und des Mauricio aus Cileas «L’Arlesiana». Er lässt spüren, dass auch in der vermeintlich realistischen oder veristischen Oper die «Hegemonie der melodramatischen Kantabilität» (Carl Dahlhaus) erhalten bleibt. In jeder der Arien ist er (bisweilen in fast zu demonstrativerWeise) bemüht, schwebende Piano-Töne einzusetzen: in Romeos lyrischem Declamato «Giulietta! Son io!» aus Zandonais «Giulietta e Romeo» wie in Fausts «Dai campi» und «Giunto sul passo estremo» aus Boitos «Mefistofele» oder zu Beginn von Enzos «Cielo e mar» aus Ponchiellis «Gioconda». Nur will ihm eine wirkliche Messa di voce – ein bruchloses Anschwellen vom Pianissimo zum Forte und das entsprechende Abschwellen der Stimme auf identischer resonatorischer Basis – nicht in der Weise gelingen wie Beniamino Gigli, Ferruccio Tagliavini oder Carlo Bergonzi, die gerade die Töne der Passaggio-Region reiner formten.

Man kann bei Kaufmann beobachten (und monieren), dass er leise Passagen wie ein «Crooner» säuselt und für die dramatischen Exaltationen einen großen, vielleicht zu großen Kraftaufwand benötigt wie zum Beispiel für Andrea Chéniers feurig deklamiertes «Un dì all'azzurro spazio», das mit mächtiger Expansion geformte Lamento des Canio oder das vulkanische Brindisi aus «Cavalleria rusticana». Ungeachtet dieser weniger kritischen als besorgten Einwände muss man die klangliche Fantasie und die Phrasierungskunst ebenso bewundern wie die Spontaneität und Verve seines Singens. Zu den Höhepunkten des vom Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Leitung von Antonio Pappano hervorragend begleiteten Recitals gehört das Final-Duett aus «Andrea Chénier» mit Eva-Maria Westbroek.






 
 
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