Merkur, 14.03.2023
Von: Markus Thiel
 
Antonio Pappanos „Turandot“-Einspielung: Pizza Puccini mit allem
Eine Gesamtaufnahme unter Studio-Bedingungen: Diese „Turandot“ ist irgendwie aus der Zeit gefallen. Antonio Pappano vertraut auf Jonas Kaufmann als Calaf, ein langes Finale und kleine Überraschungen.

Gut 50 Minuten hat das blutige Märchen schon gedauert, da kommt es zur Pointe. Der greise chinesische Kaiser Altoum trifft auf Calaf, der die Tochter des Monarchen begehrt. Erstere Partie, eine Mini-Aufgabe, wird hier gesungen von Michael Spyres, dem zurzeit spannendsten, vielfältigsten, zwischen Rossini und Wagner hochversiert tänzelnden Tenor, ein Cameo-Auftritt. In der anderen Rolle ist Jonas Kaufmann aktiv, Werbeträger dieser Neueinspielung. Zwei Stil- und Vokal-Welten prallen aufeinander, als ob man Shakespeares „Hamlet“ mit Arnold Schwarzenegger als Titelheld besetzt und für den Polonius Joachim Meyerhoff holt.

Wer Spyres für den Altoum engagiert, muss also Geld haben. Überhaupt ist diese Aufnahme von Giacomo Puccinis „Turandot“ etwas, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Opernstars für mehrere Tage vor Studiomikrofone zu holen plus eine anschließende konzertante Aufführung als i-Tüpferl, das lässt sich kaum mehr finanzieren. Anders als vor einem halben Jahrhundert, als es der Plattenindustrie gut ging und sie fast monatlich eine Opern-Einspielung ausstieß.

Insofern ist diese gerade erschienene Box aus der Zeit gefallen. Und deshalb wichtiger denn je. Antonio Pappano, scheidender Chefdirigent der römischen Accademia Nazionale di Santa Cecilia, hat so etwas in den vergangenen Jahren schon häufiger praktiziert, meist mit Kaufmann als Zugpferd. Im Falle der „Turandot“, die der krebskranke Puccini bekanntlich nicht mehr vollenden konnte, wartet Pappano mit einer Besonderheit auf. Zu hören ist das von Franco Alfano komplettierte Finale, das sonst – wenn überhaupt – in einer Kurzversion erklingt.

Zu hören gibt es Franco Alfanos kompletten nachkomponierten Schluss
Wie eine eiskalte Prinzessin innerhalb weniger Minuten für einen Freier entflammt, den sie gerade noch köpfen wollte, diese dramaturgische Nuss konnte Puccini nicht mehr knacken. Toscanini ließ das Opus 1926 bei der Uraufführung mit dem Suizid der in Calaf unsterblich verliebten Liù enden, ein offener Schluss, den Opernhäuser heute wieder häufiger praktizieren. Oder sie lassen sich von Zeitgenossen wie Luciano Berio eine Lösung schreiben. Die klassische Alfano-Kurzvariante wirkt dagegen wie angeklebt, das zur Chorversion aufgedonnerte „Nessun dorma“ dient hier als billiger Applauskitzler.

Bei Pappano lauscht man der langen Variante, ist zwar von dieser Pizza Puccini mit allem dramaturgisch befriedigt, zumal leise, vorher nicht gehörte intime Momente zwischen Turandot und Calaf passieren. Wenn aber alles zur triumphalen Liebesbrunst anhebt, fummelt man sofort am Dynamikregler – man will ja bei den Nachbarn nicht auffallen. Ansonsten bedient Pappano, er ist das Ereignis dieser Aufnahme, gerade nicht die „Turandot“-Klischees. Puccinis opulenteste Oper stampft einen nicht nieder mit Effekten. Dafür gibt es fein Ausgehörtes, ein rundes, farbsattes, substanzreiches Klangbild, in dem nicht die Rhythmusinstrumente, sondern die Streicher eine entscheidende Rolle spielen. Das Orchester vermittelt das mit Eleganz und Wärme, der Chor hat nur Schaum vor dem Mund, wo es wirklich nötig ist.

Auch Sondra Radvanovsky gibt in der Titelrolle nicht die Stahlarbeiterin. Für Extremlagen hat die ehemalige Belcanto-Expertin genug Power. Doch auch bei solchen Grenzgängen bleibt ihr Sopran gerundet und der Text verständlich – an das eher eigentümliche Timbre gewöhnt man sich schnell. Ermonela Jaho als Liù irritiert durch leichtes Flirren, dafür gibt’s in Höhenlagen Flötenzaubertöne. Mattia Olivieri, Gregory Bonfatti und Siyabonga Maqungo begreifen die drei Minister als das, was sie sein sollten: keine Buffo-Gestalten, sondern ein böses, zynisches Trio.

Und Jonas Kaufmann? Der gibt wie immer den Malocher im Bergwerk des dunklen Tenorklangs. Zum Calaf passen seine Tenor-Muskelspiele. Für Lyrismen kann er sein Organ trotzdem herunterpegeln und zärteln lassen. Dass manches am Anschlag ist, könnte gewollt sein und unter Dramatik verbucht werden. Eine Interpretation aus guter alter Opernzeit, man höre dazu nicht nur die überlang (und partiturwidrig) ausgehaltene Fermate im „Nessun dorma“ auf „Vincero!“ Eine Todsünde allerdings, dass Pappano (zumindest in der Stream-Version) dem Divo den Konzertschluss der Arie gönnt – Puccini ließ die Nummer ganz bewusst in das darauf folgende Ensemble übergehen. Das Rattern des rotierenden Komponisten-Leichnams dürfte nicht nur Torre del Lago aufschrecken.






 
 
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