Klassik.com, 27.08.2012
von Dr. Jürgen Schaarwächter
 
Blond, Carmen Blond
 
Diese Neueinspielung von Bizets 'Carmen' mit Starbesetzung wird den hohen Erwartungen leider nicht gerecht.

Bei den Salzburger Pfingstfestspielen (*) brachte Aletta Collins dieses Jahr eine neue, in der Kartennachfrage vielfach überbuchte 'Carmen' heraus. Sie hat viele beeindruckende Vorgänger – nicht zuletzt Karajans legendäre Produktion von 1966 mit Grace Bumbry, Jon Vickers, Mirella Freni und Justino Diaz. Und um eines vorweg zu nehmen: An dieser neuen Produktion ist schlichtweg nichts legendär. Früher hätten viele Provinzopernhäuser eine solche Einspielung vorlegen können. Dass der musikalische Eindruck in so vielen Punkten derart blass bleibt, bestätigt den Niedergang des modernen Opernwesens, bedingt nicht zuletzt durch das Unverständnis der Regie für das Medium Oper.

Sir Simon Rattle bleibt in der im April in der Berliner Philharmonie aufgenommenen Studioproduktion in vielen Punkten brav; da helfen auch flotte Tempi nichts, die im verkehrten Moment zurückgenommen werden. Ein genuines frankophones Klangbild ergibt sich nicht. Das Orchester spielt brillant und partiturgenau, die Phrasierung ist sorgsam, die Dynamisierung fein abgestimmt, aber im Endeffekt doch viel zu kalkuliert, zu wenig lebensvoll. Und es geht doch im buchstäblichen Sinne um Leben und Tod; schon das ‚Schicksalsthema‘ im Vorspiel bleibt schöner Schein. Man braucht ein Theatertier, einen Raubtierbändiger am Pult, damit man eine durchgängig spannende, spannungsvolle Interpretation erhält. Es ist wahr, Rattle steigert sich, besonders im dritten Akt, doch sind die ruhigeren Passagen (etwa die Schlussszene der Oper) tatsächlich ruhig musiziert, nicht wirklich spannungsvoll. Die Präzision des Orchesters wird nicht gespiegelt im Chorgesang. Der Chor der Deutschen Staatsoper Berlin agiert nicht so überzeugend wie etwa der Chor der Deutschen Oper Berlin Anfang der 1970er-Jahre unter Lorin Maazel, und der Kinderchor ist schlichtweg zu brav: Da sind keine frechen Straßenkinder, da sind keine groben Tabakfabrikarbeiterinnen, alles anständiges, gewerkschaftlich organisiertes Chorwesen, da kann es keine Messerstechereien während der Arbeitszeit geben.

Auch die Solisten sind eine ausgesprochene ‚mixed bag‘. Es stand in den Aufführungskritiken zu lesen, dass Magdalena Kozena in Salzburg darstellerisch kaum überzeugte. Auch hier bleibt sie zumeist die kühle Blonde, wenn auch mit diversen spannungsvollen und stimmlich brillanten Momenten, die aber die gesamte Produktion nicht tragen. Liegt es an mangelhafter Bühnenpersönlichkeit, an der nicht in einem Schwung aufgenommenen Einspielung? Letzten Endes wirkt auch sie wie eine anständige junge Frau, ohne die vibrierende Erotik, die Sinnlichkeit, die selbst Teresa Berganza und Victoria de los Angeles zu transportieren wussten. Die Eröffnung des zweiten Aktes wirkt wie eine musikalische Etüde, nicht wie ein wirbelnder lebenslustiger Tanz. Einer ihrer besseren Momente ist die Habanera, in der sie verschiedene Vokaltöne anschlägt (‚prends garde à toi‘); dennoch bleibt sie auch hier die kühle Blonde, nicht ganz unähnlich etwa Anne Sofie von Otter oder vor Jahrzehnten Doris Soffel. Was für ein anderes Kaliber sind da Bumbry, Troyanos, selbst Jessye Norman – lebensvolle, vor Lebenslust strotzende Stimmen.

Jonas Kaufmann hat den José in sein zentrales Repertoire aufgenommen, doch was man hier hört, ist immer wieder verquollen, heldentenoral gepresst, knödelig, fern jener schönen Leichtigkeit, die er vor fünfzehn Jahren noch hatte; nur im echten Piano strahlt die Stimme noch. Das ist wohl der Preis des Startums, wenn man sich dem Business nicht verweigert. Rattle (und dem Produktionsteam) gelingt es nicht, eine französische Stimmung zu schaffen, die auch mit der Stimmproduktion der Hauptfiguren zu tun hat. Ich denke sogleich an die große Janine Reiss, die Domingo, Raimondi und dem gesamten Team für Maazels Soundtrack des Films mit Julia Migenes in der Titelrolle das Französisch eintrichterte, bis es idiomatisch klang.

Gerade mit Blick auf die vokal unterdimensionierte Carmen ist Genia Kühmeier als Micaëla zu ‚fleischig‘, auch sie mit einem Knödel in der Kopfstimme, nicht frei strömend, im Grunde fast ein Mezzo. Sie phrasiert ‚Je dis que rien m’épouvante‘ mustergültig, aber als Konzertstück; da ist keine Angst, keine Seelenpein, nicht einmal rechte gläubige Demut. Kostas Smiorginas lässt sich von der vokalen Statur vielleicht Piero Cappuccilli (oder Ruggero Raimondi in schlechter Verfassung) vergleichen, grob, mit einem argen Mangel an Feingefühl für die französische Sprache. Vielleicht am besten sind einige der Nebenrollen besetzt. André Schuen (im Booklet mit falsch gesetztem Akzent im Namen) in der kleinen Rolle des Moralès etwa (dem leider das Couplet zu Beginn der Oper gestrichen wurde) und Jean-Paul Fouchécourt als Remendado. Die anderen Nebenrollen sind zuverlässige Stimmen, die sich aber nicht besonders profilieren.

Die brillante Aufnahmetechnik lässt (nicht unbedingt zum Erfolg dieser Produktion) alles hören, das Klangbild ist gut gestaffelt bis in die kleinsten Nebenstimmen. Das Booklet entspricht modernem Bookletdesign, d. h. Lebensläufe und Libretto muss man sich separat downloaden.

(*) Es war Ostern, nicht Pfingsten.
 
 






 
 
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