Online Merker, 08.12.2023
Von Manfred A. Schmid
 
Puccini: Turandot, Wien, Staatsoper, ab 7. Dezember 2023
WIEN / Staatsoper: TURANDOT
 
Regietheaterlich unausgegorene Dutzendware - Puccini hätte sich Besseres verdient

Es war und ist schon immer eine Herausforderung, Puccinis letzte Oper, die unvollendete und von Franco Alfano vervollständige Turandot, auf die Bühne zu bringen. Die ebenso exotische wie gewaltige Wucht der Musik ruft geradezu nach Monumentalität und aufwändigem Prunk. Allerdings droht dabei die Gefahr, dass in den gewaltigen Auf- und Abmärschen der Menschenmassen die Geschichte der von einem Eispanzer abgeschirmten Prinzessin Turandot, die die Brautwerber, die die ihnen von ihr gestellten Rätsel nicht zu lösen vermögen, am laufenden Band hinrichten lässt, in den Hintergrund tritt. Jeglicher Chinoiserie abhold, verzichtet Regisseur Claus Guth in seiner abgeschlankten Inszenierung auf architektonische Großklotzigkeit und konzentriert sich auf die Dreieck-Konstellationen Calaf-Timur-Liu und Calaf-Turandot-Altoum. Dabei gelingt es ihm, die rigide, streng reglementierte und autoritär geführte Gesellschaft, in der das Geschehen eingebettet ist, sichtbar zu machen: Gewalt steht auf der Tagesordnung. Die Eisprinzessin Turandot ist da keine Ausnahme. Sie fühlt sich verpflichtet, geradezu verdammt dazu, ein an einer Urahnin vor Tausenden Jahren verübtes Verbrechen tagtäglich von neuem rächen zu müssen. Die Hinrichtung der Männer ist ein Ritual, in dem sie ihre grausame Mission erfüllt, bis sie von dem sie unerschrocken und beständig begehrenden Fremdling Calaf davon erlöst wird und mit ihm die Liebe entdeckt. Wenn sie am Schluss, auf zwei thronähnlichen Sesseln sitzend, die traditionelle Hochzeitszeremonie über sich ergehen lassen sollen, steht Turandot auf, nimmt Calaf bei der Hand, und beide verlassen den Staatsakt durch eine Seitentüre: Eine neue Zeit beginnt. Der Fluch der zwanghaften Tradition ist überwunden. Turandots Beschützerinnen und Helferinnen, vier Kindfrauen bzw. Kinder-Mädchen mit archaischen, weißen Köpfen, haben sich schon zuvor zurückgezogen. Sie werden nicht mehr gebraucht. Turandot ist erwachsen geworden. Der Weg in eine neue Welt ist frei.

So weit, so gut und einleuchtend. Die wenig inspirierte, ziemlich öde Bühne von Etienne Pluss trübt allerdings den ansonsten recht passablen Eindruck. Palast gib es keinen, nur bespielbare Flächen, auf denen manchmal merkwürdige Teppiche mit farbgrellen Blumenmustern liegen. Möbel-Ballast gibt es auch keinen. Bei den choreographierten, besser: gedrillten Aufmärschen werden die Sitzgelegenheiten von jedem einzelnen mitgeschleppt. Nur ein großes Bett dominiert ab dem zweiten Akt, mit Turandots Erscheinen, die Bühne. Es soll wohl zeigen, wo alles schließlich hinführen und sein Ende finden wird. Eine Holzhammermethode aus der Eiszeit des Regietheaters. Warum die große Rätselszene im 2. Akt dann ausgerechnet im Schlafzimmer von Turandot stattfinden muss, wo doch der ganze Hofstaat dabei anwesend sein soll, ist ebenfalls nur schwer zu verstehen. Überzeugender sind da schon die Kostüme von Ursua Kudrna, die die Uniformität und Gleichschaltung einer Gesellschaft sichtbar machen, in der für Individualität kein Platz ist. Turandot als Märchen? Fehlanzeige. Eher ein kafkaesker Albtraum. Ein Trauma, das nach einem Erlöser ruft, und der sich in der Gestalt von Calaf auch prompt einstellt.

Mit dem Verzicht auf chinesischen Firlefanz kann man leben. Vor allem, weil es – gewissermaßen als Entschädigung für das aufgezwungene Augenfasten – die packende Musik Puccinis gibt, die voll von asiatischen Exotismen ist und an Debussy und Ravel denken lässt, aber auch kühne Vorgriffe auf spätere musikalische Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzuweisen hat. Gespielt wird die Langversion, die Franco Alfano nach Angaben des todkranken Komponisten erstellt hat. Eine kluge Entscheidung, weil dadurch die schwer nachvollziehbare Verwandlung Turandots von Abscheu und Hass in Liebe und Zuneigung plausibler dargestellt werden kann. Marco Armiliato am Pult des Staatsopernorchesters, der noch vor dem ersten Ton mit großen Beifall und einem Bravo-Ruf willkommen geheißen wird, ist ein Meister der pompösen und pathetischen Donner-Klänge, die den ersten und zweiten Akt prägen, aber auch ein fein differenzierender und jede lyrische Nuancierung auskostender musikalischer Leiter im dritten Akt, wenn Liù ihren großen Aufritt hat. Stimmlich stark gefordert sind der Chor der Staatsoper, prächtig einstudiert von Thomas Lang, sowie der Kinderchor der Opernschule, gilt Turandot doch nicht ohne Grund auch als Choroper par excellence. Leider aber in Guths Inzenierung senisch zumeist in den Hinter- und Untergrund verbannt.

Asmik Grigorian ist eine imponierende, kraftvoll singende und auch darstellerisch überzeugende Turandot. Eine starke Leistung, die auch Skeptiker, denen dieses Rollendebüt als zu früh erschienen sein mag, überrascht haben dürfte. Sie punktet mit ihrem hell-dunkel leuchtenden Sopran im tiefen und mittleren Register. Die hohen Intervall-Sprünge, z.B. in „Straniero, ascolta“, gelingen ihr mühelos. Selbst bei höchster Lautstärke, im Wettstreit mit dem voll aufgedrehten Orchester und dem Chor, wird Grigorian niemals schrill oder kreischend. Aggressiv ja, das passt gut zum Charakter der Eisprinzessin, die zunächst alle Gefühle von sich weist und deren einzige Leidenschaft die Hinrichtung der Männer ist, die ihr zu nahekommen wollen. Immer bleibt ihre Stimme aber wunderschön. Ob Mezza voce, Legato oder Pianissimo, ihre Technik ist hervorragend, was ihr in „Principessa Lou-Ling“ ganz besonders zugutekommt. Dass die Pronzesin in Guths willkürlich vorgehender Regiedie meiste Zeit nicht im Zentrum steht, sondern an den Rand angedrängt wird, entspricht nicht ihrer szenische Bedeutung und hindert Grigorian an der damatischen Entfaltung ihrer Darstellungskunst.

Es ist vielleicht nicht die idealste Rolle für Jonas Kaufmanns dunkel schattierten Tenor, aber was er bei seinem Bühnen-Debüt als Calaf leistet, verdient Bewunderung. Die hohen Töne, und es wimmelt hier nur so von hohen Bs, klingen sicher und präzis. Kaufmann kann mit dem Forte des Orchesters mithalten und mündet in der „Drei-Rätsel-Szene“ in ein strahlend helles hohes C. Das von aller Welt erwartete „Nessun dorma“ bringt dann auch den ersehnten musikalischen, geradezu zum Mitsingen einladenden Höhepunkt des Abends. Nur beim Anlauf zum letzten Ton im ersten Finale dieser längst die Opernwelt transzendierenden Welthits gibt es einen kleinen Wackler, dafür klingt es in der Wiederholung dann umso besser. Kaufmanns „Vincero!“ tönt durchaus selbstbewusst: Er hat es geschafft. Und dabei bleibt es. Neue Maßstäbe hat er nicht gesetzt und kann mit der großartigen Grigorian nicht ganz mithalten. Dafür bräuchte es eine andere Stimme. Doch seine Ausstrahlung und Bühnenpräsenz lässt darüber gerne hinweghören.

Durchaus auf Augenhöhe mit Grigorian präsentiert sich dafür Kristina Mkhitaryan. Ihre Liù, die Liebe und Leben für Calaf und Turandot opfert und für die der Frauenkenner und Frauenverehrer Puccini die zartesten und herzergreifendsten Melodien komponiert hat, ist von einer geradezu spektakulären Innigkeit. In ihrer Hingabe zum Äußersten bereit und stimmlich geradezu zauberhaft. Bei Mkhitaryan wird die in den Händen von Regisseur Guth ziemlich dürr gewordene Parabel zur märchenhaften Fabel, wie sie Puccini wohl intendiert haben dürfte: Die entsagungsvolle Sklavin als die wahre Heldin dieser Oper. Eben erst Amina in Donizettis Liebestrank und nun als Liú ein Ereignis: Ein bezwingendes Rollendebüt.

Mithalten mit den großen Stimmen kann an diesem Abend auch der stets verlässliche, stimmmächtige und wohlklingende Bass von Dan Paul Dumitrescu, der als würdige Hausbesetzung Timur, Calafs in Gefangenschaft geratenem Vater, ein starkes Profil verpasst. Etwas blass bleibt hingegen der ansonsten stets vielseitig einsetzbare und hochgeschätzte Jörg Schneider als Timur. Für den Kaiser von China ist sein angenehm timbrierter Tenor einfach eine Spur zu leise.

Attila Mokus, ebenso eine Hausbesetzung, ist ein Respekt gebietender Mandarin, seine Kollegen Martin Hässler, Norbert Ernst und Hiroshi Amako sorgen als Ping-Pang-Pong-Trio für absurd-komische Auftritte und bringen in die bluttriefende Handlung, bei der abgeschlagene Häupter wie in einem Stapellauf von Hand zu Hand weitergereicht werden, wohlverdiente Momente der Entspannung und Heiterkeit. Erwähnung verdienen auch die Chorsolistinnen Antigoni Chalkia und Lucilia Graham als Balkondamen.

Stimmlich eine durchaus gelungene Premiere. Die Inszenierung von Claus Guth hingegen ist gewöhnungsbedürftig und nicht sehr überzeugend, aber doch einigermaßen praktikabel, erzählt sie die Geschichte doch weitgehend so, wie sie im Libretto steht. Und das ist heutzutage immerhin schon etwas. Dass sich in den Schlussapplaus heftige Buhrufe einmischen, wenn der Regisseur und sein leading team zum Verbeugen hervortreten, war zu erwarten. Da haben manche wohl die Löwen und Drachen vermisst, von denen sie bei ihren Besuchen „beim Chinesen“ begrüßt werden. Kenner werden die fehlende Stringenz in der Art, wie Guth das auf Carlo Gozzi basierende, albtraumhafte Märchen deutet, kritisieren. Ein großer „Wurf“ ist das, was hier auf die Bühne gebracht wird, zweifellos nicht. Eher noch ziemlich unausgegorene, regietheaterliche Dutzendware. Da hätten sich die Staatsoper, ihr Publikum und Puccini durchaus Besseres verdient.











 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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