Merkur, 20.11.19
Markus Thiel
 
Korngold: Die tote Stadt, Bayerische Staatsoper, ab 18. November 2019
„Die tote Stadt“ in München: Zimmer ohne Aussicht
 
Auch wenn der Regisseur schwänzte, wird „Die tote Stadt“ in München zur kühlen, aufregenden Sektion eines Psychothrillers. Die Premierenkritik.

München - Menschen in Bungalows, Gehaltsklasse oberes Mittelfeld, gern mit Vintage-Mobiliar oder Barista-Maschine: Eine gefährliche Welt ist das. Beziehungsgestört sind wir ja alle irgendwie, doch einige aus dieser nur äußerlich schicken Schicht kämpfen mit mehr – mit Lug, Betrug, Wahn, inneren und äußeren Gespenstern bis zur Todesfolge. Seit vielen Inszenierungen arbeitet sich Simon Stone daran ab. Möglicherweise eine Eigentherapie. Jedenfalls hat der australische Schweizer, was Konzept und Ästhetik betrifft, eine ähnliche Obsession wie seine Figuren, man nehme nur seine „Drei Schwestern“ am Residenztheater oder „Medée“ bei den vergangenen Salzburger Festspielen.

2016, als diesem Stil noch nicht die Masche drohte, wagte Schauspielmann Stone in Basel den Schritt in die Opernwelt. Seine kühle, aufregend verstörende Sektion von Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ ist jetzt an die Bayerische Staatsoper weitergewandert (Handlung siehe unten). Und selbst wenn Stone mit dem lukrativen Drehen eines Netflix-Films beschäftigt ist, kaum zu den Proben kam und fast alles Assistentin Maria-Magdalena Kwaschik überließ: Was die Intensität betrifft, schlägt diese Premiere viele der sonstigen Münchner Produktionen aus dem Rennen.

Das funktioniert auch, weil Jonas Kaufmann fremdgeht. Dauer-Partnerin Anja Harteros muss sich den Seitensprung mit Marlis Petersen gefallen lassen. Der Münchner, weiter mit dem Abhaken von Divo-Partien beschäftigt, hatte sich den Paul als Rollendebüt gewünscht. Die Aufgabe verlangt einen Tenor, der sich locker aufschwingt in die knifflige obere Mittellage und darüber hinaus, der mit Glanz, natürlicher Tragfähigkeit und feinen Klangmischungen in Extremsituationen agiert. All dies kann Kaufmann nicht. Doch er findet (s)einen Weg. Und der ist überzeugender als bei Verdis Otello – auch wenn er offenbar dessen schlecht sitzenden Anzug auftragen muss.

Marlis Petersen überragt alle
Kaufmann löst das meiste über Kraft, über Druck, bleibt aber stabil. Erkauft wird das wieder mit Vokalverfärbungen und einer gepressten, nur vorgetäuschten Mezzavoce. Doch es funktioniert, bis der Star im zweiten, gelegentlich auch im dritten Akt an Grenzen gerät. Imponierend ist das trotzdem und passt zum Spiel. Kaufmann gibt Paul – wie Alvaro, Siegmund oder Otello – als verkniffenen Außenseiter und getriebenen Angstbeißer. Klanglich ist das oft nahe an Bariton Andrzej Filonczyk, der einen kernig-biegsamen Frank/Fritz singt. Und dennoch, was die Varianz im Ausdruck betrifft, sehr weit von der Domina des Abends entfernt.

Marlis Petersen hat die Marietta/Marie schon ausprobiert, seitdem in Kehlkopf und Körper verankert. Auch für sie ist dies eine Grenzpartie. Allerdings hat sie sich alles zurechtgelegt mit bestechender vokaler Intelligenz, mehr noch: Marlis Petersen kann die Vielgestaltigkeit ihrer Figur nicht nur darstellen, sondern auch klanglich beglaubigen. Ob als Marietta, die irritiert in Pauls Zimmer ohne Aussicht geraten ist. Ob als überdrehte Angstvision ihres Lovers oder als Imagination der toten Marie, die sich Simon Stone als eine unheilbar an Krebs Erkrankte denkt. Nicht die Stück-Schlager sind daher Höhepunkte der Aufführung, Mariettas Monolog im dritten Akt überragt alles.

Erst recht weil, sei es Werk von Stone, Assistentin oder Sopranistin, etwas anderes mitschwingt. Mit der Geschichte dieser Doppelfrau wird hier zugleich viel über Paul geraunt: Wer sagt, so denkt man sich, dass die Ehe mit Marie wirklich glücklich verlief? Ob sein Hinterzimmer-Kabinett voller Marie-Polaroids samt Altar nicht nur wahnhafte Trauerarbeit ist, sondern auch Sühne, Buße, postmortale Bitte um Vergebung? Auch auf solches kommt man also an einem Abend, der Korngolds symbolistische Handlung ins unbarmherzige Licht der Konkretisierung zerrt.

Kirill Petrenko im Cola-Rausch
Je mehr Paul die Realität entgleitet, desto mehr zerlegt sich der Bungalow mit der Hausnummer 37. Mariettas Komödiantentruppe verwandelt das Schlafzimmer in einen Swingerclub. Kino-Plakate wie Godards tödliche Lovestory „Pierrot le fou“ oder Antonionis „Blow-up“ über eine Affäre mit rätselhafter Leiche unterstreichen dies noch. Virtuos spielen Stone, Kwaschik und Bühnenbildner Ralph Myers mit diesem Aufbrechen der Realität – und mit ihrem Zusammensetzen. Am (offenen) Ende bleibt Paul nur der Frustschluck aus der Bierflasche.

Stone braucht kein dumpfes, von Morbidezza umwehtes Ambiente, um den Psycho-Reißer zu erzählen. Kirill Petrenko denkt ähnlich. Münchens scheidender Generalmusikdirektor dirigiert das Staatsorchester ins Delirium, doch es ist ein Cola-Rausch, eine Red-Bull-Hysterie, eine Exaltiertheit voller Klarsicht. Und ein Paradox: So detailwütig alles formuliert ist, so trennscharfkantig Korngolds Schichtungen gemeißelt sind, so sehr bleibt Petrenko Diener der Sänger. Einen großen Bogen schlägt er damit zu seiner ersten Premiere, zu Strauss’ „Frau ohne Schatten“. In die stückgemäß übersteigerten Ovationen mag sich daher anderes mischen – wie es wohl in München ohne ihn weitergeht?

Die Handlung:
Paul, der in Brügge wohnt, hat dort ein Zimmer, in dem ihn alles an seine verstorbene Frau Marie erinnert. Er verliebt sich in die Tänzerin Marietta, weil sie Marie fatal ähnelt. Immer wieder erscheint ihm auch seine tote Frau. Marietta verlangt von Paul, er solle sie ganz und um ihrer selbst willen lieben. Als sie vor Paul tanzt und dazu eine Locke Maries aus einem Schrein nimmt, wird er wütend und erwürgt sie. Plötzlich kommt Paul zu sich und erkennt, dass dies nur ein Traum war. Marietta lebt. Pauls Freund Frank rät ihm, Brügge zu verlassen.





 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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