Der Neue Merker, Juli 2017
Sieglinde Pfabigan
 
Verdi: Otello, Royal Opera House, London, 28. Juni 2017
„OTELLO” live aus dem Royal Opera House-Millenium City UCI Kinowelt, Wien, 28.6.
 
live-Übertragung aus dem Royal Opera House, Millenium City Wien Wunderbar dirigiert vom langjährigen Musikdirektor Antonio Pappano — fabelhafter Verdi, mit wohlkontrollierter Wucht beim anfänglichen Gewittersturm, der fast an einen Weltuntergang denken ließ, großartigen Chorszenen (Einstudierung: William Spaulding), italienische Kantilenenfreude zum Niederknien auch von instrumentaler Seite, emotionale Dichte und sehr ergreifende stille Momente; einfühlsam inszeniert (soweit die gesamte, von Boris Kudlicka gestaltete Bühne zu sehen war) von Meisterregisseur Keith Warner, dem offensichtlich eine glaubwürdige Rollengestaltung der Sänger das Wichtigste ist, wozu natürlich die entsprechende Kostümierung (Kaspar Glarner) mächtig beitrug. Fesch sahen sie alle aus in ihren historisierenden Gewändern. Wie Pauseninterviews und Probenausschnitte zeigten, ist lang und präzise mit den Sängern gearbeitet worden. Das Resultat — für mich immer das oberste Kriterium: „Otello" war zu erleben als das unübertreffliche Meisterwerk, das Verdi und Boito, basierend auf Shakespeare, geschaffen haben.

Als Hauptattraktion: Jonas Kaufmanns Otello-Debut — ein voller Erfolg. Großartig gesungen die gesamte Partie, ohne jegliche Höhenprobleme, kraftvoll und strahlend, nahtloser Übergang zwischen baritonaler Tiefe und Mittellage ins tenorale Höhenregister und zurück, traumhafte piano-Phrasen sowohl im Liebesduett wie auch im 3. und 4. Akt, dazu großer emotionaler Einsatz bis zum letzten „altro bacio". Dass der großgewachsene, fesche, ausgesprochen nobel wirkende Deutsche äußerlich keinerlei Anzeichen von Fremdartigkeit inmitten der venezianischen Bevölkerung Zyperns auRvies, weswegen man ihn hätte gering achten können, blieb Tatsache. Dass man dem hochintelligenten Künstler vom Typ her ein so totales Ausschalten jeglicher Vernunft und eine Unbeherrschtheit mir Ausrasten bis zum Mord aus Eifersucht an der geliebten Frau nicht zutraut, ist sein Pech. Wie er sich die Rolle trotzdem erspielt und ersungen hat, verdient höchsten Respekt. Wunderbar, ihn auf diesem Wege als Otello kennen gelernt zu haben. Dass ich trotzdem begierig auf seinen Tannhäuser und Tristan warte, kann und will ich nicht leugnen.

Keine Einschränkungen, was die Rollengestaltung betrifft, gibt es bei den beiden italienischen Protagonisten. Maria Agresta singt nicht die Desdemona, sondern ES singt aus ihr. So, als hätte sie nie im Leben etwas anderes getan. Und nie zu tun brauchen. Solch ein inniger, reiner, Liebe und Liebenswürdigkeit verströmender Sopran ist nicht alltäglich. Es ist auch kein gekünsteltes Lächeln, mit dem sie ihren Otello anstrahlt und im Liebesduett des 1. Aktes an sich fesselt, sondern die Anti-Natur zu jenem Bereich, dem der Kriegsmann lange Jahre verpflichtet war. Solch ein Wesen zu verlieren, muss für ihn natürlich furchtbar sein. Es sich einzubilden, noch schlimmer. Aber dazu trägt sehr glaubwürdig ein Jago wie Marco Vratogna bei, der schon von der Optik her so richtig schmierig, mit großem mimischem und körperlichem Einsatz sein böses Spiel treibt und mit der Stimme auch verbal entsprechend eindringlich agiert. Da gibt es kein Entkommen. Wie ausreichend kräftig Vratognas Stimme im Bedarfsfall klingen kann, lässt sich im Kino schwer feststellen. Auf jeden Fall war er als Figur mehr als voll da. Kai Rüütel als Emilia, Frederic Antoun als Cassio, Thomas Atkins als Roderigo, Simon Shibambou als Montano, Thomas Barnard als Herold und In Sung Sim als Lodovico füllten die Nebenrollen tadellos aus.

Im Vergleich zu den MET-Übertragungen fällt auf, dass die dezenten Engländer weit weniger talentiert im Präsentieren ihrer „Stars" aller Branchen sind als die Star-süchtigen Amerikaner. Es wird von den Moderatorinnen alles gesagt, was zu sagen ist, aber mir weniger großen Worten. Eine nette Alternative.

PS von Seiten der Veranstalter:
Die Liveübertragung aus London war nicht nur krönender Saisonabschluss der Saison 2016/17, sondern auch die bisher erfolgreichste Vorführung aus dem Royal Opera House in Deutschland und Osterreich überhaupt. Am Mittwoch war „Otello" sogar die umsatzstärkste Kinovorstellung des Tages und verwies die aktuellen Hollywood-Blockbuster auf die Plätze. In den nächsten Wochen haben viele Kinos noch Zusatzvorstellungen angesetzt, um der großen Nachfrage gerecht zu werden.




 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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