Online Musik Magazin
Von Bernd Stopka
 
Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayerische Staatsoper, 22. Mai 2016
Meistergesang in einer No-go-Area?
12 Meistersinger (mit dem erkrankten Niklas Vogel) hat Richard Wagner wie 12 Apostel um den mit Rettungs- und Erlösungsanteilen versehenen Hans Sachs geschart. Sollte da die 12. Produktion der Meistersinger von Nürnberg am Ort ihrer Uraufführung nicht etwas ganz Besonderes werden? Aber auch ohne diese Zahlenspielerei waren die Erwartungen an die Neuproduktion von Wagners weise-komischer Oper am Münchner Nationaltheater ausgesprochen hoch und die Karten ebenso begehrt wie schwer zu bekommen. Das hängt sicher mit dem enormen Ruf zusammen, den der Münchner Generalmusikdirektor und künftige Chef der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko (zu Recht) genießt, aber auch mit dem szenischen Rollendebüt von Startenor Jonas Kaufmann als Walther von Stolzing.

In der vorletzten, heiß geliebten Produktion hatte August Everding ab 1979 die Geschichte in klassischer Weise erzählt, die Festwiese aber weniger klassisch zur Wies’n erklärt und in einem Oktoberfestzelt spielen lassen. Ab 2004 zeigte Thomas Langhoff eine karg stilisierte, kritische und wenig geliebte Umsetzung, die die schwebenden Figuren im Quintett auch nicht retten konnten. 2016 verlegt nun Regisseur David Bösch mit Bühnenbildner Patrick Bannwart und Kostümbildnerin Meentje Nielsen die Geschichte in eine schmutzig-graue, trostlose Armutsgegend, vielleicht sogar No-go-Area einer heutigen Kleinstadt. Gerüste und halbverfallene, nie wirklich fertiggestellte Fassaden von zwei Häuserblocks vor schwarzem Hintergrund mit einem Bretterpodium wie ein Boxring in der Mitte bildet das Szenenbild des ersten Aktes. Die hervorgezogenen Häuser umranden einen heruntergekommenen Platz für den zweiten Akt und die Schusterstube. Die „Festwiese“ zeigt wieder den Boxring mit den geschmückten Gerüsten und diversen Spruchbändern mit Meisternamen, „Johannistag“, „Hans wir lieben dich“, „Beckmesser singt besser“ usw.

Eine (katholische) Prozession singt den Eingangschoral, während Stolzing und Eva neckisch um Evas Tuch streiten. Stolzing ist ein quirliger Nonkonformist mit Lederjacke, Reisetasche und Gitarre, der sich am rechts stehenden Bier-Auslieferungswagen erst einmal eine dreht. Die Meister interessieren sich offensichtlich mehr für ihr Versammlungsbier als für die Regeln, die David Stolzing in Form von Aktenordnern zuwirft. Der Singestuhl ist elektrisch verkabelt und nach sieben Fehlern haut Beckmesser auf einen großen roten Knopf, den man mit diversen Castingshows aus dem Fernsehen in Verbindung bringen kann – nur dass hier der Delinquent dabei Stromstöße bekommt. Der greise Lordsiegelbewahrer Kothner scheint da nicht mehr mitzukommen und sich nach besseren Zeiten zurückzusehnen. Er ähnelt äußerlich ein wenig dem alten Wolfgang Wagner, was interessante Parallelen und Gedanken zur Figur aufwirft. David poliert eine Wagnerbüste, die Stolzing später zerschlägt und deren Scherben Kothner als Schlussbild des ersten Aktes zärtlich streichelt.

Sachsens „Schusterstube“ ist ein umgebauter Kastenwagen, auf dem sein Namensschild leuchtet. Eine fahrende „Schuh-Reparatur-Annahme“. Der Schuster ist ein schnodderiger, heruntergekommener Typ, der obendrein dem Gin zugetan ist (was ihn – bedeutungsvoll oder nicht – mit Queen Mum verbindet). Pogner fährt mit seinem Dienst-BMW vor, der neben dem Namenszug auch das Nummernschild „M-POG-001“ trägt. David ist per Mofa hereingerollt, das später von Eva okkupiert wird, dann aber aus den bekannten Gründen doch nicht als Fluchtfahrzeug zum Einsatz kommt. Beckmesser bringt eine Hebebühne mit, die ihn auf die Höhe der rechten Proszeniumsloge heben soll, in der die als Eva verkleidete Magdalene ihren Platz gefunden hat. Dann folgt eine Menge Klamauk, zum Teil auf Klamottenniveau. Sachs füllt Beckmesser mit Gin ab, der zerschlägt seine Ukulele und bekommt eine neue aus dem Souffleurkasten gereicht. Richtig ernst und bedrohlich wird es in der Prügelfuge: Eine Gang mit Affenmasken stürzt sich auf die verängstigte Menge und man spürt, dass sie die Bewohner nicht das erste Mal tyrannisieren. Aus Fenstern fliegen Ordner und Papier. Eva will Beckmesser schützend in den Schusterwagen drängen, in dem aber schon Stolzing sitzt, mit dem Sachs davonfährt. Der Nachtwächter ist ein Streifenpolizist, der sich unter dem gemeinen Volk noch so gerade eben Respekt verschaffen kann – vor dem Schlägertrupp hat er jedoch Angst und lässt sich ins Auto sperren, während einer von ihnen - inzwischen demaskiert - mit dem Baseballschläger weit ausholt, um Beckmesser einen finalen Hieb zu verpassen – exakt auf den musikalischen Schlussschlag.

Vom Namenszug auf Sachsens Wagen wurden der erste und der letzte Buchstabe beschädigt und so wird aus „Sachs“ ein „ach“, das wie eine Stoßseufzer-Überschrift über der Melancholie der Schusterstubenszene steht. Der Müll der Nacht liegt noch auf der Bühne. David massiert mit schlechtem Gewissen Sachs beruhigend die Schultern. Stolzing hat im Wagen übernachtet und verzichtet sowohl auf Sachsens saure Milch als auch auf Gin im Morgenkaffee. Beckmesser erscheint mit Blumen für die ebenfalls jetzt schon auftretende Eva, die sie aber ablehnt. Er wirft sie ihr hinterher, übergießt sich mit Benzin…. aber das Feuerzeug versagt. Das Papier, das er als Fidibus verwenden wollte, ist das Werbelied. Nun ist sein Stolz wieder erwacht. Während Eva mit Sachs spricht, dreht sich Stolzing erst einmal eine Zigarette, als ob ihn das alles nichts anginge. „Mach Du mal“. Ganz berührend und doch vernünftig geht Sachs hier mit seinem persönlichen Johannistrieb um, den in ihm nicht nur die Johannisnacht, sondern Eva selbst geweckt hat. Nach dem Quintett steigen David und Lene juchzend in Sachsens Wagen, den Stolzing von der Bühne fährt.

Mit einer offenen Verwandlung entsteht das Schlussbild. Und hier kommt dann doch noch das wenig geliebte Mittel der Projektion zum Einsatz. Keine Eurovision, sondern eine (mit im gleichen Stil gestaltetem Logo) „Pognervision“ begrüßt die Gäste, stellt die Meister vor, zeigt den Pokal und fällt zur Schlussansprache bedeutungsvoll aus, bzw. überzieht die ganz Bühne und erzeugt ein überpixeltes Bild, das immer dann entsteht, wenn etwas Kleines zu sehr vergrößert wurde… David unterzieht sich als frisch geschlagener Geselle dem Initiationsritual des Schnapsbrettsaufens und auch Eva kann das Ganze nur im Schampusrausch ertragen. Sie tritt mit einer Augenbinde auf, die ihr Beckmesser abnimmt und sich wie einen Glücksbringer um den Arm bindet. Er erscheint im Glitzeranzug mit Netzshirt und wirkt so lächerlicher als durch sein Lied. Stolzing macht sich vor seinem Preislied erst einmal locker und spielt den Meisterswinger. Doch trotz seines Erfolges gibt es kein gutes Ende. Eva sucht mit Stolzing das Weite, denn der macht den ganzen Zinnober nicht mit, lehnt auch, nachdem Sachs ihn ganz persönlich ins Gebet genommen hat, die Meisterehre ab und verweigert die Aufnahme in die Zunft. Der sturzbetrunkene David entleert seinen Mageninhalt schlaggenau auf das final gesungene „Kunst“ in den Meistersingerpokal. Einen versöhnlichen Schluss verweigert der Regisseur, indem er Beckmesser zwar wieder auf der Bühne erscheinen lässt – doch der bedroht den gemütlich eine Zigarette rauchenden Sachs mit einer Pistole, erschießt sich dann aber selbst durch die Kehle (ausgerechnet, wahrscheinlich durch die Stimmbänder). Sein zweiter Suizidversuch an diesem Abend ist erfolgreich. Die Banner fallen herab, es entsteht Chaos. Eine seltsame Stimmung zum schlechten Schluss, die so gar nicht zum jubelnden Chorfinale mit Glitterregen passen will.

"Habt ihr es nicht eine Nummer kleiner?" möchte man da fragen. Das Finale wirkt aufgesetzt, so, als wolle man zeigen, dass man nach allem Klamauk ja auch noch eine ernste Botschaft mitgeben kann. Aber bringt uns das weiter? Wenn ja, wohin? Und was sollen wir da? Und dies gilt für diese ganze, sinnarme szenische Aktualisierung. Kein aufgeklärter Opernbesucher erwartet heutzutage Butzenscheiben, Fachwerk und Nürnbergpanorama, aber gerade bei dieser Inszenierung stellt sich die Frage „Warum eigentlich nicht?“. Denn die sehr detailliert ausgearbeitete, handwerklich ungemein gut gemachte und umgesetzte, genau auf die Worte des Textbuches ausgerichtete und sie verdeutlichende Personenregie (also die Teile, die nicht in irgendwelchen obskuren Aktionen enden) würde in jedem anderen Bühnenbild genauso funktionieren und faszinieren. Da bedarf es keiner modernisierenden Mätzchen mit Schmutz und Müll, denn das, was emotional zwischen den Personen geschieht, ist immer aktuell. Die äußeren Umstände aber weniger, denn das Ausloben einer Tochter als Preis für ein Wettsingen ist in einer No-go-Area heutiger Tage einfach nur unsinnig – ebenso wie eine Kürschnerei in dieser Gegend. Die Spannung zwischen künstlerischen Ordnungshütern und Revoluzzern ließe sich zum Beispiel anhand des Meistergesangs im Nürnberg des Hans Sachs reizvoll darstellen und bebildern. Dann wäre der mündige und denkende Zuschauer gefordert, die menschlichen Aspekte selbst in seine Gegenwart zu übertragen. Das wäre doch eine spektakuläre szenische Umsetzung, für das jüngere Publikum eine noch nie gesehene. Geradezu revolutionär. Die Idee hatte aber schon jemand: Der hieß Richard Wagner und hat mit seiner Oper Die Meistersinger von Nürnberg ein wundervolles Werk voller Tiefsinn, Lebensweisheit, Heiterkeit, Gesellschaftsbeobachtung und viel, viel feiner Komik geschaffen. Feiner Komik.

Jonas Kaufmann ist mit seiner blendenden Bühnenerscheinung und seinem schauspielerischen Engagement ein optisch höchst attraktiver Stolzing. Sein dunkles Timbre ist Geschmackssache, vielleicht auch die zuweilen recht eigenwilligen Vokalfärbungen und Tonansätze. Er lässt kaum einen hell strahlenden Ton hören, dunkelt die Stimme immer wieder, wie schützend oder schonend ab und klingt so über weite Strecken eher baritonal. Wenn er aber einmal einen Spitzenton frei heraussingt (beim Schlusston des dritten Bars in der Schusterstube zum Beispiel) klingt das wunderbar und macht Hoffnung und Lust darauf, dass sich sein Stolzing auch stimmlich zu dem Strahlemann entwickelt, als den man sich den verliebten Ritter wünscht. Wolfgang Koch singt den Sachs mit seiner alten Größe, die man in den Berliner Aufführungen im letzten Herbst ein bisschen vermisst hat. Doch Bedenken und Befürchtungen über eventuelle Überanstrengungen des Sängers, der zu den derzeit gefragtesten gehört, kann er hier mit ausdrucksstarkem, kultiviertem Bass-Bariton, vielfältigen Stimmfarben und enormen Kraftreserven geradezu restlos zerschlagen. Dass er sich bei dieser mörderischen Partie stellenweise ein bisschen zurücknimmt, woran dann die Konturen ein wenig leiden, ist verständlich und nachvollziehbar. Dafür entschädigt er dann im nächsten Moment mit zu Tränen rührenden sanften Tönen bis hin zum steinerweichenden „Lenzes Gebot“, um nur ein Beispiel zu nennen. Eine fantastische Leistung dieses ganz besonderen Ausnahmesängers unserer Tage. Markus Eiche singt den Beckmesser so hochkultiviert und ästhetisch, dass man seine stimmlichen Qualitäten als Meistersinger bewusst erleben kann. Dass er im verunglückten Preislied verzweifelt zu retten versucht, was nicht mehr zu retten ist, würde ihn noch menschlicher machen, wenn er nicht mit Glitzeranzug und Netzhemd nachgeholfen hätte. Der Sänger hätte das auch ohne diese kostümliche Überzeichnung berührend deutlich gemacht. Einen besonderen Eindruck hinterlässt Sara Jakubiak als stimmlich durchschlagskräftige Eva, die kein schüchternes Mädchen ist, sondern selbstbewusst die Dinge in die Hand nimmt. Stimmlich und schauspielerisch eine resolute junge Frau, die aus dieser im Grunde doch ganz erbärmlichen Tochterverschacherungsgeschichte nur durch die Flucht erhobenen Hauptes wieder herauskommt. Okka von der Damerau ist eine Luxusbesetzung der Magdalene. Mit gleichmäßig durchgeformtem, klangvollem und warm timbriertem Mezzo wertet sie diese eher undankbare Partie enorm auf und endlich kann man auch einmal nachvollziehen, dass David sie so heiß und innig liebt. Den Lehrbuben singt Benjamin Bruns mit großem Engagement, stimmlicher Souveränität und wunderbar klarem hellen Tenor, der das Zeug hat, dem vom Singschüler belehrten Ritter stimmlich die Schau zu stehlen. Christof Fischesser singt sehr wortverständlich mit markantem, aber nicht protzendem Bass einen souveränen Pogner, Tareq Nazmi beeindruckt als stimmstarker Nachtwächter und Eike Wilm Schulte ist als Kothner mit seinen 76 Jahren ein Musterbeispiel gesunder Stimmführung und volltönender Stimmkraft.

Kirill Petrenko geht die Partitur mit überwiegend flotten Tempi an, die aber nie gehetzt wirken, sondern immer ganz natürlich, lebendig und dynamisch. Sein Präzisionsanspruch ist kein Selbstzweck, sondern ist die Voraussetzung, unter der die Musik erst so selbstverständlich natürlich klingen kann. Er baut mitreißend faszinierende Bögen auf, hält sie, um sie dann in einer folgenden Phrase aufgehen zu lassen und mit der freiwerdenden Energie den nächsten Sog zu entwickeln, gern auch mal energisch fordernd und akzentuierend. Dabei beweist er erneut seine Kunst, gleichberechtigt neben dem großen Ganzen, feinste Details herauszuarbeiten und sie mit fließenden Bewegungen weich zu modellieren. Dieses Dirigat ist ein in den Bann der Musik ziehender Genuss, dem man sich gern hingibt, ohne sich dabei unwohl zu fühlen, wenn diese „Meistersinger“ festlich, aber eben nicht pathetisch klingen. Gerade im zweiten und dritten Akt lohnt es sich besonders, immer wieder genau hinzuhören, denn die musikalischen Feinheiten haben es neben dem Brimborium auf der Bühne schwer, wahrgenommen zu werden. Gelegentlich vermisst man dann aber doch ein bisschen die melancholischen Anteile der Musik, wie etwa im ein wenig zu raschen und nicht sonderlich zauberhaften Vorspiel zum dritten Akt oder auch im Quintett, das allerdings auch unter dem hier doch eher unangenehm stahlharten Einsatz des Soprans und dem geknödelten des Tenors leidet. Das Bayerische Staatsorchester folgt seinem GMD nahezu blitzsauber und mit deutlich hör- und spürbarer Leidenschaft. Chor und Extrachor klingen prachtvoll gewaltig und halten auch dem von Petrenko ausgesprochen lang gehaltenen „Wach auf!“ problemlos Stand. Den tosenden Applaus mit Trampeln, das um die Stabilität der Ränge fürchten lässt, nimmt der Maestro mit gewohnter Bescheidenheit entgegen: Nicht als der Stellvertreter des Gottes der Musik auf Erden, als der er hier gefeiert wird, sondern als ein erster Diener der Musik. Und das macht ihn noch sympathischer.

FAZIT
Eine musikalisch großartige Produktion, die die Geschichte szenisch höchst aktiv, aber nicht wirklich überzeugend in die heutige Zeit zu transferieren versucht. Über allem leuchtet als hellster Stern kein Star, sondern der bescheidene Mann am Pult, der Großartiges leistet.




 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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