Opernwelt, September/Oktober 2015
 
Beethoven: Fidelio, Salzburger Festspiele, 4. August 2015
Fidelio, Salzburg
 
Beethovens «Fidelio» wird zwar überall gespielt, bleibt aber durchaus ein Stück für Festspiele. Ein Stück für Experimente nämlich, eines mit dem der Komponist nie fertig wurde. Ein Versuch, verschiedene Stilschichten zusammenzuzwingen. Ein ästhetischer Grenzgang, dessen utopisches Potenzial sich nur erkunden lässt, wenn die Ausführenden ihrerseits bereit sind, an Grenzen zu gehen. In Salzburg war das nun der Fall. Trotzdem scheiterte die dritte und letzte Premiere der Festspiele 2015.

Regisseur Claus Guth hat sich viele Gedanken gemacht und zwei Grundsatzentscheidungen getroffen. Erstens: Die Dialoge sind gestrichen. Das ist nicht neu. Wieland Wagner und Otto Klemperer (bei der auch szenisch von ihm betreuten Aufführung an Covent Garden 1961) trugen sich mit ähnlichen Gedanken. Nikolaus Lehnhoff kam bei den Salzburger Osterfestspielen ganz ohne Texte aus (siehe OW 6/2003). Zweitens: Leonore hat eine Doppelgängerin, die in Gebärdensprache übersetzt, was sonst gesprochen oder gedacht wird. Beethovens Taubheit mag eine biografische Motivation dazu gegeben haben. Trotzdem handelt es sich um eine Schnapsidee. Als Peter Sellars in Salzburg Strawinskys «Psalmensymphonie» und «Oedipus Rex» mit Taubstummensprache versinnlichte (siehe OW 10/1994), war das ein Weg zur archaischen Künstlichkeit der Musik, zu ihrem geistlichen Anspruch. Vor allem war es eine kollektive Aktion, ein Stück Performance. Nun, als Einzelaktion, wirkt es unmotiviert, lenkt quirlig vom Geschehen ab. Auch Pizarro hat einen agilen «Schatten», der Gedanken nach außen tragen soll. Und auch der verdoppelt mehr, als er vertieft.

Der Verzicht auf Dialoge hat also einen hohen Preis. In einem leeren, weißen, klassizistisch anmutenden Raum (Christian Schmidt) wird die Handlung abstrahiert. Nur die Kostüme verraten ein bisschen vom sozialen Status der Figuren. In der Mitte ein großer schwarzer Kubus, um den sich die Szenen gruppieren. Ein Ausriss des Geschehens gewissermaßen, zusammengehalten von einer Klanginstallation: Es wummert leise aus den Boxen, Atemgeräusche sind zu hören, dann moderate Sturmböen. Eine Aura des erhaben Numinosen aber will sich nicht einstellen. Auch von Introspektive keine Spur. Im akustischen Kraftfeld des «Fidelio» müsste eine Klangstele viel radikaler quer-stehen, um sich zu legitimieren. So aber wirkt sie wie ein Soft-Programm, unspezifisch, unverbindlich. Was an Geschehen übrig bleibt, ist konventionell arrangiert. Nur dass die Gefangenen im ersten Akt als weißgewandete Lemuren quasi irreal die Bühne abschreiten. Im Finale wird (nun ersetzt ein Kronleuchter den Kubus) der Chor komplett ins Off verbannt. Das ist gewagt - und bequem.

Viel aufgeblasene Enigmatik also. Wo die endet, wird dieser «Fidelio» ein einziges Mal szenisch interessant: Florestan ist und bleibt paralysiert: ein Psychokrüppel auch im Finale. Inmitten von Jubel-Raserei hält er sich die Ohren zu, zuckt und windet sich, bricht tot zusammen, noch bevor ihn Leonore offiziell in die Arme schließen kann. Jonas Kaufmann spielt das mit agiler, unangestrengter Körperlichkeit. Sängerisch hat er die Rolle im Griff, mischt extreme Piano-Kontraste unter die gaumig abgedunkelte Tongebung. Den Aufschrei «Gott, welch Dunkel hier» - ein «g» im tonlosen Raum, in dem der verkürzte Dominantseptakkord nachklingt - legt er als langes Crescendo an, mehr Kunststück als kreatürlich, zudem mit vokalem Nachdruck erkauft.

Claus Guth stellt sich ein «Mosaik» einsamer Menschen vor, erwähnte im Vorfeld häufig kafkaeske Verirrungen im «Fidelio». Der Abend löst das nicht ein. Im leeren Riesenraum, der die Dimensionen des Großen Festspielhauses nachbuchstabiert, wirken die Sänger verloren. Selbst die sonst so souveräne Adrianne Pieczonka steht neben sich. Ihr kraftvoll durchgebildeter Sopran, ihre elegante Phrasierungskunst, ihr Ausdruckswille - alles nur zu ahnen. Hans-Peter Königs schönstimmiger Rocco kommt wie auf Samtpfötchen daher, Tomasz Konieczny gibt mit verfärbten Vokalen und aufgerissenen Tönen den Brunnenvergifter. Die Nebenrollen sind blass besetzt. Dazu kommt: Die Wiener Philharmoniker lassen den Stimmen keine Chance. Sie spielen im hochgefahrenen Graben mit scharf geschnittener Artikulation, zumeist forschen Tempi, kaum gebremster Dynamik. Franz Welser-Möst setzt auf große Befreiungsoper, kitzelt den Furor der Utopie heraus, die schwarzen aber auch die überhellen Farben der Partitur. Das hat Folgerichtigkeit und Anspruch. Es kulminiert in der als symphonisches Drama virtuos und kontrastreich ausgespielten, dritten «Leonoren-Ouvertüre». Der Jubel ist entsprechend groß. Mit den akustischen oder klanglichen Spezifika von Beethovens Zeit hat das freilich nichts zu tun. Wenn das Stück - szenisch wie musikalisch - derart ins Riesenhafte gesteigert wird, geht es uns nichts mehr an. Das «Haus für Mozart» wäre ein weit geeigneterer Raum. Und die Wiener Philharmoniker könnten ihre große, bei Böhm, Karajan und Bernstein kulminierende «Fidelio»-Tradition auch mal vergessen und sich das klangliche Filigran des frühen 18. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Festspiele sind schließlich für Experimente da und nicht zur (Selbst)Beweihräucherung von Nationalheiligtümern.


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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