Augsburger Allgemeine, 16. August 2013
Stefan Dosch
 
Verdi: Don Carlo, Salzburger Festspiele, 13. August 2013
 
Triumph eines unmöglichen Paars
 
Aus der Salzburger Neuproduktion von Verdis Oper, fünfaktig in Szene gesetzt von Peter Stein, ragen die Sängerinterpreten Anja Harteros und Jonas Kaufmann hervor
 
Wer in die Oper geht, hofft stets auf diese Momente, wo höchste Gesangskunst sich mit ergreifendem Ausdruck paart. Momente, die so rar sind wie sonnige Tage im Januar.

Mindestens einen solchen dem Opernalltag enthobenen Augenblick bot die Premiere des neuen Verdi-„Don Carlo” in Salzburgs Großem Festspielhaus. Als Anja Harteros in der Partie der Elisabeth im 5. und letzten Akt Abschied nimmt von ihrem Königinnen-Dasein und damit auch von ihrer prekären Liebe zu Carlos, da bündelt die Sopranistin dieses Gemenge aus Diesseitsschmerz und Jenseitshoffnung am Ende ihrer Arie in einem berückend blühenden Ton, einem hohen Ais —um dann, nochmals auf emotionaler Talfahrt, vollendet kontrolliert über fast zwei Oktaven hinabzustürzen, über ein zwischengeschaltetes Cis neuerlich das hohe Ais mühelos frei anzusetzen und schließlich in einer bewegenden Pianissimo-Kadenz zum Ende zu gelangen. Sieben Takte, in denen die Zeit stillzustehen scheint.

Was das Sängerische anbelangt, besitzt diese Festspiel-Neuproduktion überhaupt ein hohes Niveau, ist jedoch, neben Anja Harteros, nur noch in einem weiteren Besetzungsfall herausragend: in Jonas Kaufmann als dem Interpreten der Titelrolle. Wohl keinem anderen heutigen Tenor liegt eine solch kraftvolle Emphase in der Stimme, die einem heldenhaft Scheiternden wie Carlos erst das tragische Format beimisst. Kaum einer auch, der nach dreieinhalb Stunden Singen noch mit Lockerheit in die Höhe steigt und daneben die Kraft zur Gestaltung einer lyrisch-süßen mezza voce — im Abschiedsduett mit Elisabeth — besitzt. Nicht zu reden von Kaufmanns schauspielerischen Fähigkeiten, die zentral sind für einen Regieansatz wie den von Peter Stein.

Die Szene spielt dort, wo der Komponist sie verortete

Denn der Altmeister ist auch diesmal seinem Credo treu geblieben: Nichts in Szene zu setzen, was die Quellen nicht hergeben. Unerschütterlich vertraut Stein darauf, dass große Kunst denjenigen, der ihrer teilhaftig wird, in die Lage versetzt, eigene Transfers — ins Hier und Heute oder sonst wohin — vorzunehmen. Und so belässt Stein auch diesen „Don Carlo" dort, wo ihn Verdi und seine Librettisten verorteten: im Spanien des 16. Jahrhunderts. Platten Historismus versagt sich das Produktionsteam natürlich. Bei der Bühne (Ferdinand Wögerbauer) und in den Kostümen (Annamaria Heinreich) sind die Zeitbezüge zwar erkennbar, aber idealisiert angedeutet. Für die meisten Szenen des Geschehens nutzt Stein die komplette Überbreite der Festspielhaus-Bühne, zieht das Bild sogar noch dadurch in die Länge, dass er es künstlich quadriert, und schafft mit der selben Methode an anderer Stelle fensterhafte Ausschnitte für Kabinetträume, etwa bei Philipps Monolog (4. Akt).

Stein hat sich für „Don Carlo" entschieden (ohne -s am Namensende), also für den italienischen Text statt des ursprünglich französischen. Und doch restituiert er den von Verdi aus theaterpraktischen Gründen später gestrichenen ersten, den sogenannten Fontainebleau-Akt der französischsprachigen Urfassung. Das ist legitim, weil der Komponist selbst 1886 für eine Aufführung in Modena den ersten Akt wieder ins Recht gesetzt hat, nunmehr mit italienischem Libretto. Welche Sprache auch immer — für die dramaturgischen Zusammenhänge sind die Wiedereingliederungen ein beträchtlicher Gewinn, wozu auch das Vorspiel der Holzfäller (1. Akt) sowie der Maskentausch zwischen Elisabeth und der Prinzessin Eboli (3. Akt) gehören. Das alles lässt eine „Don Carlo"-Aufführung natürlich anschwellen auf Wagner'sche Maße mit netto fast vier Stunden Musik.

Antonio Pappano besitzt als Dirigent ein untrügliches Gespür für den Pulsschlag von Verdis Musik, für das Zurücknehmen und Wiederanziehen des Tempos, aber auch für das Aufspüren versteckter Seelenregungen in den Mittelstimmen des Orchestersatzes. Inspiriert, phasenweise entflammt agierten die Wiener Philharmoniker mit geschärfter, dramatisch wirksamer Artikulation — klingend jedenfalls keine Spur davon, dass, wie am Premierentag in der Salzburger Presse groß aufgemacht, das Orchester sich nicht mehr hinreichend wahrgenommen fühlt als Festspiel-Zentralgestirn.

Ein tiefes Organ genügt nicht zur Gestaltung von Seelentiefe

Nicht zuletzt aus Verdis Partitur schöpft die Inszenierung die Koordinaten für die ausgefeilte Personenregie. Doch nicht alle Sängerprotagonisten vermögen sich darauf derart einzulassen wie das Paar Harteros/Kaufmann. Schon ein Thomas Hampson als Rodrigo ist in seinen Bewegungen und Gesten sichtlich old school — wenngleich der Bariton sängerisch nach wie vor zu großer Form aufzulaufen vermag. Tadellos auch Ekaterina Semenchuk als Eboli. Matti Salminen als Philipp hingegen verfügt zwar über jegliche Bass-Grundgewalt, ist damit aber nicht beweglich genug, um die innere Einsamkeit des Königs und die Gewissensbisse über den Tod Rodrigos auf wirklich erschütternde Weise zu gestalten. Etwas zu effekthascherisch-aufbrausend denn auch die Szene mit dem dröhnenden Großinquisitor von Eric Halfvarson. Robert Lloyd komplettiert das Tieftöner-Trio dieser Oper in Gestalt des Mönch-Kaisers Karl V.

Großer Jubel für die Sänger, Zustimmung auch für Peter Stein, nur von einzelnen Widerrufen getrübt. So, wie der Regisseur das macht, den Text beim Wort und die Musik beim Sinn zu nehmen, kann Oper ja auch tatsächlich funktionieren. Hochfliegende Regiekonzepte, sie wurden an diesem Abend jedenfalls nicht vermisst.















 
 
  www.jkaufmann.info back top