Opernglas, Februar 2012
B. Kempen
Wagner: Lohengrin, Teatro alla Scala, 18. Dezember 2012
 
Mailand - Lohengrin  
 
So ganz geglättet schienen die empörten Wogen über die Wahl eines Wagner-Werkes zur Inaugurazione der Scala di Milano noch nicht zu sein. In der vierten Vorstellung des neuen »Lohengrin« blieben einige Logen auffallend leer, und sofort nach dem Schlussakkord verließ ein Großteil des Publikums kommentarlos den Saal, um noch eine bestimmte U-Bahn zu erwischen, weil eine nächtliche Pasta bereits wartete oder tatsächlich, um plakativ pro Verdi aufzutreten. Nicht nachvollziehbar für den übrig gebliebenen „Rest", war man doch erfreulicherweise Zeuge des ersten »Lohengrins« mit der ursprünglichen Erstbesetzung geworden, die diese Produktion wieder in einem anderen Licht zeigte als die Premierenvorstellung, in der sich wie auch in der Fernsehübertragung der Fokus verständlicherweise auf Annette Dasch als Elsa-Einspringerin gerichtet hatte. Ein spannender Aufführungsvergleich war also möglich mit interessanten Verschiebungen in den Akzenten und in der Gesamtwirkung.

Claus Guth taucht gern in die Entstehungszeit eines Werkes ein und sucht dort in Seelen-Biografien und Kindheitsprägungen nach den Ursachen für Schuld und Erlösungssehnsucht. So positioniert er auch seinen »Lohengrin« in ein mehrstöckiges Ambiente der Gründerzeit mit Assoziationen zur Empfangshalle von Haus Wahn-fried, in dessen Innenleben sich nicht nur der Chor in Frack und Uniform tummelt. Auch Elsas psychotische Erinnerungen an die verlorene Zweisamkeit mit dem Bruder werden immer wieder in Surrealsequenzen mit Schwanensymbolik in Schilfgestrüpp-Inseln oder auf den Galerien lebendig, und Elsas stummen Schrei am Ouvertüren-Ende hört wohl nur jemand, der ebenso wie sie als Grenzgänger zwischen Raum und Zeit unterwegs ist. Anja Harteros durchzieht diesen traumatisierten Charakter mit introvertierter Depressivität und flieht in Elsas AbsenceZustände in wehmütiger Traurigkeit. Stimmlich startet sie nachvollziehbar vorsichtig, reduziert aber nur einige Spitzentöne in den Ensembles im 1. Akt. Ansonsten gelingt ihr eine kontinuierliche Leistungssteigerung, in der sie ihren persönlichkeitsstarken Sopran mit seinem besonderen Timbre aus Wärme und Glanz wunderschön und anrührend zur Geltung bringt.

Rückte bei der TV-Übertragung durch gezielten Kameraeinsatz immer wieder Elsas Borderline-Symptomatik in den Mittelpunkt, zeigt sich im Erlebnis vor Ort, dass sich Guths Hauptinteresse um Lohengrin dreht, um das die eigene Identität suchende Schicksal eines Wanderers zwischen den Welten. An die Stelle des strahlenden Schwanenritters ist der verwundbare Antiheld getreten. Jonas Kaufmann ist an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt, hat er doch mit der wieder neu zum Leben erweckten Pianokultur in Wagners Werk den Weg frei gemacht für den empfindsamen Helden, der nicht siegt, sondern scheitert. Lohengrins Ankunft gleicht einer schmerzhaften Geburt. Da findet sich plötzlich ein zitternder Mensch auf dem Boden in Fötusstellung, in den jeder seine eigenen Wunsch- oder Feindbilder projiziert: Elsa den Bruder, Heinrich den Feldherrn, Telramund und Ortrud den Politgegner. Diese Kaspar-Hauser-Situation, „lost in translation" zu sein in unbekannten Funktions- und Denkschemata, etabliert Kaufmann darstellerisch als einen von verwirrter Unsicherheit bestimmten Balance-Akt, und er bringt diese tragische Gratwanderung des öffentlichen Hoffnungsträgers und des privat tief einsamen Menschen immer mit der musikalischen Struktur in Einklang, wobei jede Färbung zwischen heldentenoralem Stahl, beweglichem Belcanto und zarter Linie wie just in diesem Moment empfunden klingt. Zum Höhepunkt wird die „Taube" in der Gralserzählung, die er in einem leichten Piano ansetzt, in ein sanftes Crescendo führt, um sie dann wieder leiser werdend im Pianissimo verschwinden zu lassen - ein wirklich in diesem Zauber noch nie so gehörter Stillstand der Zeit.

Bei den weiteren Charakteren bleibt Guth in klassisch bekannten Gefilden. Rene Pape stattet den König Heinrich mit sicher strömender Basis und geröhrter Höhe aus und spult seinen Part in der besuchten Vorstellung emotionslos routiniert ab. Zeljko Lucic singt einen ambitionierten Heerrufer, bleibt aber ein Fremdkörper. Graf Telramund ist bei Tómas Tómasson so lange gut aufgehoben, bis der parlierende Schlagabtausch von ausbrechender Dramatik abgelöst wird, danach stößt er an seine Grenzen. Von einem anderen Kaliber ist da Evelyn Herlitzius' Ortrud. Die Wandlung von der zugeknöpften Gouvernante im Cosima-Stil zur immer attraktiver und schöner werdenden Intrigantin ist für die temperamentvolle Sänger-Schauspielerin ein leidenschaftlicher Hexenritt, der ohne jedes Schrei-Element auskommt und die Höhen der Schlussattacke mit Bravour meistert.

Daniel Barenboim am Pult beweist sich einmal mehr als glänzender Koordinator mit souveränen Reaktionen, der seine eigene Sichtweise stets im Auge behält. Manche Chorschlamperei in den „nicht so wichtigen Einsätzen" erträgt er mit stoischem Gleichmut und animiert im Gegenzug zu ultimativer Brillanz in den exponierten Chorgroßauftritten. Betont werden die Übergänge und der Gesamtfluss der Partitur, der Süße gibt er Luft zum Atmen und peitscht das Tempo durch, wenn die Katastrophe ihr Ventil sucht.

Eine Vorstellung an der Scala ist tatsächlich eine Art „Gesamterlebnis", denn auch das Styling im Publikum, explizit die Schuhmode, ist Event vom Feinsten. Und der aktuelle »Lohengrin« überzeugt ebenfalls als eigenwillig stilvolle Produktion, die aber letztlich steht und fällt mit dem barfüßigen Jonas Kaufmann - entwaffnend perfekt auch ohne Mailänder Designer-Schuhe.

Foto: Mailänder Scala, Monika Rittershaus






 
 
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