NZZ, 10.12.2012
Peter Hagmann
Wagner: Lohengrin, Teatro alla Scala, 7. Dezember 2012
 
Selbstverständlich ohne Schwan 
 
Wagners «Lohengrin» an der Mailänder Scala
 
Wie immer nicht ganz ohne Turbulenzen eröffnete die Mailänder Scala am Namenstag des Stadtheiligen Ambrosius ihre Spielzeit. Zum Verdi-Jahr gab es Wagner, nämlich «Lohengrin».

Die Sensation des Abends bestand darin, dass er ohne die Nationalhymne begann, wo doch Sant'Ambrogio an der Mailänder Scala immer mit dem Inno di Mameli eröffnet wird. Gewiss, Staatspräsident Napolitano war der Regierungskrise wegen verhindert, in der Königsloge sass bloss Ministerpräsident Monti, weshalb der Verzicht protokollarisch korrekt war. Und am Ende, beim grossen Beifall, erklang die fröhliche Hymne dann doch noch, war die Welt also wieder in Ordnung.

In den italienischen Tageszeitungen wurden dem beispiellosen Vorfall denn auch ausführliche Spekulationen gewidmet. Der Dirigent Daniel Barenboim habe sie mehr oder weniger absichtlich vergessen, war etwa zu lesen, weil er den leisen, hohen Anfang von Wagners «Lohengrin» nicht durch den pompösen Auftritt der Nationalhymne habe stören wollen. Der Musikdirektor der Scala hätte sich also wieder einmal durchgesetzt, und durchgesetzt zu haben scheint er sich auch mit der Werkwahl, denn «Lohengrin» zur Eröffnung eines Opernjahrs, das eben nicht nur ein Wagner-, sondern auch ein Verdi-Jahr ist, wurde als unpassend kritisiert. Wobei unterschlagen wurde, dass sich unter den Neuinszenierungen der Scala 2012/13 praktisch nur Verdi findet und dass sich für den 7. Dezember 2013 der Dirigent Daniele Gatti und der Regisseur Dmitri Tscherniakow mit «La Traviata» befassen sollen.
Elsa der letzten Minute

Auch sonst fehlte es bei der diesjährigen Mailänder Saisoneröffnung nicht an Aufregung. Nach der Generalprobe sah sich Anja Harteros, die dort die Elsa gesungen hatte, von einem Grippevirus befallen, und das nämliche Schicksal ereilte wenig später die als Stellvertreterin engagierte Ann Petersen. Weshalb ausserordentlich kurzfristig Annette Dasch, die diese Partie seit zwei Jahren bei den Bayreuther Festspielen verkörpert, nach Mailand gerufen wurde. Wie die Sängerin diese unvorstellbare Anforderung meisterte, wie sie sich nach nur wenigen Stunden Probenarbeit in der alles andere als einfachen Inszenierung von Claus Guth zurechtfand und wie sie dabei die fast mädchenhafte Zartheit ihrer Stimme bewahrte, kann man nicht genug bewundern. Mit seinem ungemein strahlkräftigen, immer baritonaler wirkenden Tenor stand ihr Jonas Kaufmann als Lohengrin in voller Solidarität zur Seite.

Überhaupt war hier ein nicht nur exquisites, sondern auch von den künstlerischen Profilen her grossartig komponiertes Ensemble beisammen. Bei Annette Dasch wie bei Jonas Kaufmann ist zu spüren, wie bewusst, mithin rational fundiert sie ihre Partien gestalten, weshalb sie mit einem kreativ nachdenkenden Regisseur wie Claus Guth sofort in Kontakt kommen.
Für Evelyn Herlitzius gilt das nicht weniger, nur gesellt sich bei dieser Sängerin noch ein geradezu expressionistisch heraustretendes Theatertemperament dazu, weshalb die Ortrud hier zu einer wahren Hexe wurde. Einer Hexe, die mit ihrem Ehemann Telramund einen bissigen Hund an der Leine führte, aber eben einen Hund, einen Unterhund – was Tómas Tómasson mit seinem scharf zeichnenden Timbre und seinem herrischen, doch rasch gebrochenen Auftreten hervorragend umsetzte. Den König, Heinrich den Vogler, gab René Pape mit seinem auch auf der riesigen Bühne der Scala noch gewaltigen Bass als den über den Dingen stehenden Souverän, der genau wusste, wann er seine schwarzen Lederhandschuhe ausziehen durfte und wann nicht.
Ein Künstlerdrama

Solche Dinge sind nämlich sehr bewusst gesetzt in der fabulösen, scharf konzipierten und präzis durchgeführten Inszenierung von Claus Guth – mit der die Scala nun definitiv den Anschluss an die Gegenwart des Musiktheaters gefunden zu haben scheint. Wie so oft zeigen Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt das Werk im Gewand seiner Entstehungszeit und das Geschehen als tiefenpsychologischen Vorgang. «Lohengrin» spielt hier in einem strengen, grossbürgerlichen Raum mit Holztäfer und Schmiedeisen. Ein Schwan kommt selbstverständlich nicht vor; eine szenische Metapher, ist er bloss als Flügel oder Feder präsent. Lohengrin ist einer, der den Normen seiner Umgebung denkbar fernsteht, der durch sie verunsichert wird und vor ihnen fliehen möchte – ein Künstler vielleicht, vielleicht gar der Komponist selber. Elsa wiederum ist nicht weniger unsicher; sie kaut die Nägel und kratzt sich nervös am Arm, doch am Ende kann sie nicht anders als die verhängnisvolle Frage stellen. Wie dann alles zusammenbricht, kann man selten so eindrücklich, auch so berührend erleben.

Wenn nur der Dirigent auch ein wenig von den klaren szenischen Ansätzen aufgenommen hätte. Chor und Orchester der Scala klangen mächtig, getragen, pastos – so ist es eben bei Daniel Barenboim, der den dicken Pinsel liebt. Der Raumklang, den er einführte, tat gewiss seine Wirkung, aber oft nahm er keine Rücksicht auf das subtile Piano, das die Sänger suchten, weshalb sich das Instrumentale in den Vordergrund schob. Das war vielleicht das Einzige, was keine Überraschung bot an Sant'Ambrogio dieses Jahres.




 






 
 
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